The Visceral Novel Reader: Die leibliche Erfahrung des Romanlesens in der britischen Kulturgeschichte, 1688-1927
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Das Vergnügen am Romanlesen ist mit großen Gefühlen verbunden. Das Problem ist, dass emotionale Reaktionen auf Romane lange Zeit eher als Hindernis, denn als Weg zur Interpretation betrachtet wurden. Das vorliegende Projekt mit dem Titel "The Visceral Novel Reader" erforscht die Verflechtung von Romanen und leiblicher Erfahrung beim Romanlesen. In Anlehnung an Maurice Merleau-Pontys Phänomenologie der Wahrnehmung gehen wir davon aus, dass die Leiblichkeit den Erfahrungshorizont ausmacht, den alle Lesenden (bewusst oder unbewusst) an einen Roman herantragen. Eine Lesende, die in ihrem Sessel sitzt und sich die Welt des Romans vorstellt, ist ein Beispiel dafür. Phänomenologisch lässt sich diese Haltung als eine reversible Empfindung beschreiben, bei die Lesende ihre Leiblichkeit als gleichzeitig passiv und aktiv erlebt. Bei der vorliegenden Aufarbeitung der Leiblichkeit beim Romanlesen stellen wir uns folgende Forschungsfragen: Wie haben Romanautorinnen – und Autoren in ihren Romanen die menschlichen Beziehungen zur Leiblichkeit in den Vordergrund gestellt? Wie wurde und wird die Leiblichkeit Lesender durch Romane angeregt? Zur Beantwortung dieser Fragen stützt sich das Projekt auch auf den Mimesisbegriff der hermeneutischen Phänomenologie von Paul Ricoeur, die den gesamten Bogen von Autorin und Autor über die Komposition bis zum Lesenden spannt. In diesem Rahmen umfasst der Übergang von der Konfiguration (Mimesis 2) zur Refiguration (Mimesis 3) die durch den Roman induzierte Einübung von Sinneswahrnehmungen des Lesenden und die mögliche Anwendung dieser leiblichen Leseerfahrung auf das reale Leben. Die Ergebnisse des Projekts zeigen, dass einflussreiche Romanautorinnen - und Autoren wie zum Beispiel Aphra Behn, Jane Austen, Charlotte und Anne Brontë, George Eliot, Virginia Woolf, Thomas Hardy und Henry James ihre Werke zunehmend mit Hinweisen anreicherten, die die leibliche Vorstellungskraft der Lesenden ansprachen, und zwar mit zunehmend viszeraler Wirkung. Sieben Aufsätze von Monika Class zur hermeneutischen Phänomenologie und ihre laufendes Buchprojekt "The Visceral Novel Reader: Past and Present Co-creations of Embodied Imagination" (Arbeitstitel) und Natasha Andersons zwei Aufsätze und ihre Dissertation mit dem Titel "The Reader, the Body, and the Book: Visceral Reading Experiences in the Victorian Novel" bestätigen die Hypothese, dass viszerale Reaktionen auf Romane ein wesentlicher Bestandteil des Aufstiegs des englischen Romans zu einer beispiellosen literarischen Dominanz in der viktorianischen Ära und zur verbalen Kunst in der literarischen Moderne waren. Darüber hinaus enthält das von Monika Class herausgegebene Sonderheft "Trace: Embodied Approaches to the Novel in English" eine Zusammenfassung des Rezeptionsmodells, das Paul Ricoeurs Begriff der Spur mit Maurice Merleau-Pontys Leiblichkeitsbegriff verbindet. Es leistet einen Beitrag zur aktuellen Debatte über die Grenzen von Kritik und der Hermeneutik des Verdachts, da es auf Ricoeurs "herméneutique de la récupération du sens" hinweist. Außerdem untersuchen die gesammelten Beiträge das Zusammenspiel zwischen der Leiblichkeit der Lesenden und spurähnlichen Darstellungen in anglophonen Romanen, die während der viktorianischen Epoche sowie im einundzwanzigsten Jahrhundert erschienen.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Annika Mann. Reading Contagion: The Hazards of Reading in the Age of Print.. The Scriblerian and the Kit-Cats, 53(2), 212-214.
Class, Monika
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"'tis by Comparison we can Judge and Chuse [sic!]": Incomparable Oroonoko. Edition Kulturwissenschaft, 125-148. transcript Verlag.
Class, Monika
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23 Ann Radcliffe, The Romance of the Forest (1791). Handbook of the British Novel in the Long Eighteenth Century, 417-434. De Gruyter.
Class, Monika
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Blood and Footprints: Traces of Embodiment in Jude the Obscure and The Woman in White. English Studies, 104(4), 589-611.
Anderson, Natasha
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Embodied Interdependencies of Health and Travel in Henry James’s The Portrait of a Lady and Thomas Hardy’s Tess of the d’Urbervilles. Medicine and Mobility in Nineteenth-Century British Literature, History, and Culture, 75-96. Springer International Publishing.
Anderson, Natasha
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Introducing Trace as an Embodied Approach to the Novel in English. English Studies, 104(4), 579-588.
Class, Monika
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Traces of the Queer Child inShuggie Bain. English Studies, 104(4), 649-666.
Class, Monika
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Upright Posture and Gendered Styles of Body Movements in The Mill on the Floss. Medicine and Mobility in Nineteenth-Century British Literature, History, and Culture, 121-143. Springer International Publishing.
Class, Monika
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‘Trace: Embodied Approaches to the Novel in English.’ English Studies 104.4 (2023).
Class, Monika
