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Zivilisierte Familien. Diskurse der 'kindlichen Treue' in China im Zeitalter des 'chinesischen Traums'.
Antragsteller
Dr. Marius Meinhof
Fachliche Zuordnung
Empirische Sozialforschung
Förderung
Förderung von 2019 bis 2024
Projektkennung
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 424193223
In den letzten Jahren wird in Regierungspropaganda und in öffentlichen Debatten in China zunehmend eine traditionelle chinesische Kultur beworben. Das zeigt sich besonders deutlich in Appellen an kindliche Treue zu den Eltern, auf chinesisch xiao (孝). Xiao, das als zentrale Tugend der chinesischen Kultur dargestellt wird, ist schon länger in intellektuellen Debatten und alltäglichen Diskursen präsent. Das xiao nun auch als Thema in staatlicher Propaganda aufgegriffen wird, ist von hoher Relevanz für das Verständnis sozialen Wandels in China: Erstens weil sich bisherige Studien zur Gouvernementalität im China der Reform-Ära (ab 1979) vor allem auf staatliche Projekte zur Modernisierung der Bevölkerung konzentrieren, und daher die Bedeutung von Diskursen über chinesische Tradition vernachlässigen. Zweitens weil die Anrufung von xiao Teil eines allgemeinen Trends zur Aufwertung chinesischer Tradition, und damit Teil eines Wandels im chinesischen Gouvernementalitätsregime zu sein scheint. Dabei stellt sich die theoretisch und empirisch vielversprechende Frage, wie der Diskurs der sozialistischen Modernisierung und das ikonoklastische Erbe der Vierten Mai Bewegung mit der Anrufung traditioneller chinesischer Subjekte in Einklang gebracht werden kann.Das Projekt „Zivilisierte Familien“ soll anhand ethnographischer und videographischer Daten eine empirisch begründete Theorie darüber bilden, wie im chinesischen Gouvernementalitätsregime eine „Chinesische Traditionelle Kultur“, insbesondere die Kultur der kindlichen Treue xiao, angerufen wird. Dabei sollen sowohl staatliche Diskurse als auch Alltagsdiskurse sowie Praktiken in einzelnen Familien durch Kombination verschiedener Typen qualitativer Daten erforscht und miteinander verglichen werden. Die leitende Forschungsfrage lautet: Wie wird kindliche Treue zwischen staatlichen Diskursen und alltäglichen Praktiken hervorgebracht und ausgehandelt? Die Forschungsfrage wird untergliedert in drei Unterfragen:- Wie werden Ansprüche an die Erschaffung einer modernen Bevölkerung und Vorstellung von chinesischer Identität in staatlichen Diskurse zu xiao miteinander verknüpft und in Bezug zueinander gesetzt?- Wie werden Intergenerationalität und Verwandtschaft, insbesondere Formen von xiao, auf der Ebene alltäglicher Praktiken und Diskursen aufgefasst und hervorgebracht?- Inwieweit gibt es Gemeinsamkeiten oder Widersprüche zwischen staatlichen und populären Auffassungen von xiao und von Familie, und inwieweit findet dabei eine wechselseitige Bezugnahme statt?Die Arbeitshypothese lautet, dass staatliche Diskurse in China Familien und Subjekte anrufen, die sowohl „modern“ und „zivilisiert“ als auch „traditionell“ und „chinesisch“ sein sollen, um das Dreiecksproblem von „Intergenerationalität“, „Verwandtschaft“, und „Wohlfahrtsstaat“, das in China genauso drängend erscheint wie in vielen EU-Ländern, durch Förderung intergenerationaler Solidarität abzumildern und so den entstehenden Wohlfahrtsstaat zu entlasten.
DFG-Verfahren
Sachbeihilfen