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Selbststilisierung von Roma in der darstellenden Kunst

Antragsteller Dr. Lorenz Aggermann
Fachliche Zuordnung Theater- und Medienwissenschaften
Förderung Förderung von 2019 bis 2023
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 426338271
 
Erstellungsjahr 2023

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Hauptbestandteil des Forschungsprojekts bildete die historische Rekonstruktion der drei institutionalisierten Roma-Theater – Theater Romen Moskau, Theater Romathan Kosice und Theater Pralipe. Die untersuchten Theater stellen markante Gegenentwürfe zur Jahrhunderte währenden Geschichte der Fremdstilisierung in Literatur, Dramatik, Musik, Tanz und Bild dar. Ein wesentliches Ziel der Studie war es, explizit Autorschaft, und damit verbunden, ästhetisches und politisches Handeln von Roma zu Bewußtsein zu bringen. Im Falle der untersuchten Ensembles geht das individuelle und subjektive Ringen um künstlerischen Ausdruck aufgrund der minoritären Position der Kunstschaffenden unmittelbar mit der politischen Forderung nach Anerkennung und Gleichberechtigung einher. An ihrem Beispiel tritt somit die doppelte, politische und ästhetische Verpflichtung von Theater besonders deutlich hervor. Die Aufführungen dienen nicht nur dem individuellen Ausdrucksstreben, sie sind ebenso politisches Mittel, um die eigene Gemeinschaft als auch die hegemoniale Gesellschaft zu adressieren. Ausgehend von der spezifischen gesellschaftspolitischen Einbettung dieser Theater (in der Sowjetunion, in der postkommunistischen Slowakei, in Jugoslawien / im wiedervereinten Deutschland,) und vor dem Hintergrund des divergenten ethnischen und kulturellen Fundaments der Rom-Völker wurde bei der Rekonstruktion insbesondere die Situiertheit darstellender Kunst zwischen Hetero- und Autonomie fokussiert. In allen drei Ensembles soll darstellende Kunst ursprünglich Mittel bieten, um Sprache, Motive, Quellen, Stilistiken und weitere Referenzen für eine einheitliche und ubiquitäre Roma-Kultur zu erschließen. Theater wird als ein Instrument der kulturellen Emanzipation und des Nationbuildings verstanden. Zugleich dient es als Forum für den öffentlichen Widerspruch gegenüber der hegemonialen Gesellschaft und ihren vielfältigen Praktiken der Diskriminierung. Nicht zuletzt stellt es ein zentrales Element im subjektiven und gemeinschaftlichen Kampf um Anerkennung dar. Im Falle des Theater Romen Moskau, als dezidiert ethnisches Theaterensemble 1930 gegründet, konfligieren die Emanzipationsbestrebungen mit den politischen Maßgaben. Der Auftrag, ein ethnisch und ästhetisch spezifisches, zugleich ideologisch korrektes Programm zu produzieren, führt letztlich immer wieder zu einer Ästhetik, die aufgrund ihrer Spezifika dem Vorwurf, bourgeois und dekadent zu sein, entgeht, ihren Erfolg beim Publikum indes geradewegs über Fremdbeschreibung und Exotisierung sucht. Das Theater Pralipe durchläuft, nicht zuletzt durch Emigration bedingt, eine Entwicklung, in der gänzlich unterschiedliche Formen und Formationen von darstellender Kunst realisiert werden und an deren Ende eine weder ethnisch noch national fundierte Ästhetik postuliert wird, sondern sich das Konzept eines migrierenden und kosmopolitischen Theaters abzeichnet. Damit wird es zu einem Solitär und Vorreiter in der deutschen Theaterlandschaft. Das Theater Romen Moskau und das Theater Pralipe zeitigen, nicht zuletzt durch die Auseinandersetzung mit (sich wandelnden) sozialen, ökonomischen und ästhetischen Normen in ihrer Dekaden währenden Produktivität, eine stark alterierende Ästhetik, deren Merkmale, abgesehen von der wiederkehrenden Auseinandersetzung mit jenen Dramen und Vorlagen, in welchen die Fremdbeschreibung tradiert und kanonisiert wird, kaum zur spezifischen Beschreibung von Roma-Kulturen beitragen. Der Blick auf minoritäre, d.h. sozio-politisch nicht gleich gewertete und gewürdigte Ästhetiken ist somit weniger dazu geeignet, allfällige Differenzen oder das Wesen einer Roma- Ästhetik zu deduzieren. Die Ensembles pointieren durch ihre Arbeit die (demokratie)politische Bedeutung von Theater: als Formant und Mediator von Öffentlichkeiten, als Medium der Interpellation, zur Diskussion und Reflexion im sozio-politischen Prozeß der Normenbildung und nicht zuletzt im Kampf um Anerkennung. Dabei erzwingt das theatrale Spiel auch die Auseinandersetzung mit den eigenen ästhetischen Prämissen. Um als politischer Diskussionsraum geeignet zu bleiben – das zeigt sich paradigmatisch an den untersuchten Ensembles –, braucht Theater ebenjene verbriefte Offenheit, wie sie in zahlreichen zentraleuropäischen Verfassungen als Autonomie und Freiheit von (darstellender) Kunst festgeschrieben ist. Diese ästhetische Offenheit gilt es gegenüber einem strategischen Zugriff auf darstellende Kunst, aber auch gegenüber ihrer ökonomischen oder anderweitig utilitaristischen Verpflichtung zu verteidigen. Nur in dieser Offenheit zeitigt (darstellenden) Kunst ihr politisches Potential.

 
 

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