Rhetorische dissimulatio artis im Neuen Testament?
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Ausgangspunkt des Projekts war die Beobachtung, dass mindestens bis Augustinus der Umgang der frühen Christen mit der griechisch-römischen Rhetorik ambivalent war und zwischen Faszination und Tabuisierung schwankte. Die Frage nach möglichen neutestamentlichen Wurzeln dieser Haltung führt schnell zu Paulus. Hier finden wir eine programmatische Ablehnung der Rhetorik, die das Reden im göttlichen Geist der menschlichen Überredung gegenüberstellt und vorzieht. Paulus scheint von Rhetorik nichts zu verstehen (2Kor 11,6) und nichts zu halten (1Kor 1-4). Obwohl Paulus die Redekunst also entschieden abzulehnen scheint, sind doch viele heutige Ausleger davon überzeugt, dass er sich ihrer bedient hat. Schon manche Kirchenväter schätzten ihn als guten Redner ein und deuteten Selbstaussagen wie 2Kor 11,6 als Bescheidenheit. Diese Beobachtungen machen auf eine zunächst überraschende Verständnismöglichkeit aufmerksam: Stellungnahmen wie 2Kor 11,6 könnten Bescheidenheitstopoi und damit Teil einer weit umfassenderen rhetorischen Strategie sein, der sogenannten dissimulatio artis ("Verheimlichung der [sc. eigenen rhetorischen] Kunst"). Es handelt sich hier um ein Phänomen, das in der antiken Kultur auch außerhalb der Rhetorik in vielen Bereichen begegnet: Ein Kunstwerk sollte die Kunstfertigkeit, die darauf verwendet worden war, möglichst nicht zeigen. Liest man Paulus in diesem Kontext, wäre seine Selbstdistanzierung von der Rhetorik in Wirklichkeit ein Bekenntnis zu ihr. Die Antwort auf die Frage, ob hier tatsächlich dissimulatio artis vorliegt, erforderte eine genauere Beschäftigung mit diesem rhetorischen Phänomen, das in der klassischen Philologie wenig erforscht ist. Zunächst mussten also sein Vorkommen, seine Funktionen und seine Merkmale in der paganen Literatur der Antike geklärt werden. Erst auf dieser Grundlage konnte die Frage nach Paulus beantwortet werden. Die Untersuchung der einschlägigen Texte ergab, dass er (und — aus nachvollziehbaren Gründen — im Neuen Testament eigentlich nur er) sich tatsächlich in diese Tradition stellte. Alternative Erklärungsversuche der einschlägigen Merkmale wie etwa der Verweis auf die alttestamentliche Prophetie sind nur eingeschränkt plausibel. Allerdings finden sich bei Paulus wichtige Modifikationen. Es ging ihm nicht darum, durch dieses Mittel die eigene Rhetorik zu verheimlichen und so unbemerkt wirksam werden zu lassen, wie es sonst üblich war. Vielmehr benutzte er die dissimulatio, um seine Rhetorik zu qualifizieren. Er traute den menschlichen Möglichkeiten und damit auch der Rhetorik viel weniger zu als seine pagane Umwelt; nur in Verbindung mit der göttlichen Kraft und nur als ihr Sprachrohr war in seiner Sicht rhetorische Einflussnahme erfolgversprechend. Aber in dieser Konstellation war Rhetorik in der Tat möglich und sinnvoll. Gerade die dissimulatio in ihrer paulinischen Form erlaubte eine Qualifizierung der eigenen Beredsamkeit als Geistrhetorik, die anderen Formen der Rhetorik übergeordnet, aber damit eben auch vergleichbar war. Paulus entwarf so eine christliche Rhetorik in nuce, die Schule machte. Ein Ausblick auf den frühchristlichen Umgang mit der Rhetorik zeigte, dass vor allem Augustinus mit seiner Auffassung von der christlichen Redekunst als inkarnierter Rhetorik Gottes den paulinischen Zugang zur Rhetorik vollendete.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Dissimulatio artis. Verlag Herder GmbH.
Schmeller, Thomas
