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Kritik anti-essenzialistischer Soziologie. Konturen, performative Wirkmächtigkeit und Grenzen eines paradigmatischen Wissenschaftsverständnisses im "postfaktischen Zeitalter"
Antragstellerin
Dr. Jenni Brichzin
Fachliche Zuordnung
Soziologische Theorie
Förderung
Förderung seit 2020
Projektkennung
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 443532822
Dieses Forschungsprojekt dreht sich um anti-essenzialistisches Denken, das sich als eines der Schlüsselmerkmale gegenwärtiger soziologischer Theoriebildung begreifen lässt. Seine Bedeutung ist erheblich – nicht, weil anti-essenzialistische Zugänge eine etwas andere Perspektive auf Gesellschaft vermitteln, sondern weil sie den klassischen Vorstellungen davon, wie wissenschaftliche Erkenntnis zu erreichen ist, ein grundsätzlich anderes Wissenschaftsverständnis entgegensetzen. Diesem Verständnis nach lässt sich Erkenntnis in einer prinzipiell als unbestimmt begriffenen Welt nicht durch eindeutige Bestimmung erreichen. Anti-essenzialistischem Denken geht es stattdessen darum, die Freiheitsgrade aufzuzeigen, die jeder Forschungsgegen-stand besitzt – Freiheitsgrade, die erst im gesellschaftlichen Prozess beschränkt oder beseitigt werden. Ziel des Forschungsprojekts ist es, zum ersten Mal die Konturen, Potentiale und Grenzen der anti-essenzialistischen Erkenntnisweise umfassend herauszuarbeiten. Die Untersuchung ist dazu notwendig theorieübergreifend angelegt, sie setzt sich intensiv insbesondere mit poststrukturalistischen, systemtheoretischen, neopragmatischen/praxistheoretischen und netzwerktheoretischen Ansätzen auseinander. Jenseits deutlicher Unterschiede auf sozial- und gesellschaftstheoretischer Ebene werden dabei Gemeinsamkeiten auf wissenschaftstheoretischer Ebene erkennbar. Das Forschungsprojekt ist aktuell gerade deshalb so wichtig, weil anti-essenzialistisches Denken vor dem Hintergrund gegenwärtiger gesellschaftlicher Verwerfungen im Rahmen des „postfaktischen Zeitalters“ teilweise stark infrage gestellt wird. Ist es nicht denkbar, so die entsprechende Kritik, dass die gegenwärtige Geltungskrise im Zusammenhang steht mit anti-essenzialistisch kultivierter Geltungsskepsis? Nicht zuletzt diese Frage gilt es auszuloten, um herauszufinden: wie es weitergehen kann mit anti-essenzialistischem Denken innerhalb der Soziologie.Durch zwei komplementäre Untersuchungsschritte wird dieses Ziel erreicht. Zum einen macht die theoretische Rekonstruktion des anti-essenzialistischen Paradigmas innerhalb der Disziplin der Soziologie deutlich, auf welche (durchaus unterschiedliche Weisen) Gesellschaft an-tiessenzialistisch gedacht werden kann, welche Erkenntnismöglichkeiten solches Denken eröffnet und welche Vorstellungen seiner politischen Wirkmächtigkeit dahinterstehen. Zum anderen wird durch empirische Rekonstruktion des gegenwärtigen politischen Diskurses über das „postfaktische Zeitalter“ erkennbar, welche Vorstellungen von Wissenschaft, Wahrheit und Erkenntnis derzeit gesellschaftlich verhandelt werden und welche Bedeutung dabei anti-essenzialistischem Denken zugeschrieben wird. Gemeinsam ermöglichen diese beiden Untersuchungsschritte eine umfassende Zustandsbestimmung ebenso wie die Kritik anti-essenzialistischen Denkens in der Gegenwart, und sie lassen die Frage nach künftigen Entwicklungsmöglichkeiten anti-essenzialistischen Denkens greifbar werden.
DFG-Verfahren
Sachbeihilfen