Familien im SGB II-Grundsicherungsbezug. Wechselwirkungen zwischen Beziehungsstrukturen und institutionellen Kontexten in "armen Familien"
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Das explorative Forschungsprojekt untersuchte am Schnittpunkt von mikrosoziologischer Familien- und Wohlfahrtsstaatsforschung die Konsequenzen des Bezugs von Mindestsicherungsleistungen für die familiale Alltags- und Lebensführung. Hierzu wurde eine fallrekonstruktive Studie zu Familien in der deutschen Grundsicherung für Arbeitssuchende durchgeführt. Es wurden zum einen familienbiographische Interviews mit Paarfamilien und Alleinerziehenden, die seit mindestens zwei Jahren (ausschließlich oder aufstockend) SGB II-Leistungen beziehen und Kinder im Schulalter haben, und zum anderen ExpertInneninterviews mit Jobcentermitarbeitenden erhoben. Die Interviews wurden mit einer Kombination von Grounded Theory und Objektiver Hermeneutik ausgewertet. Die Analysen ergaben, dass das SGB II und die Jobcenterorganisationen von einem widersprüchlichen Bezug auf Familie gekennzeichnet sind: Die Arbeitsförderung für Erziehende insbes. nach dem dritten Lebensjahr ist von Ermessensspielräumen einerseits und berufsstrukturell-organisationalen Grenzen der Wahrnehmung der familialen Lebenswelten andererseits geprägt. Normative Urteile und selektive Einschätzungen der familiären Umstände durch die FallmanagerInnen und ein – partiell reflektiertes – Nichtwissen über familienlebensweltliche Problemlagen strukturieren die Beratung und Vermittlungspraxis. Die damit verbundenen Interventionen zwischen Hilfe und Kontrolle sind gerade vor dem Hintergrund komplexer und von Krisen geprägter Familienbiographien zu betrachten. Die biographischen Fallrekonstruktionen zeigten, wie Familien die Abhängigkeit von SGB II-Leistungen sinnhaft filtern und verarbeiten. Herausgearbeitet wurden variable integrative Strategien, die auf den Erhalt familialer Werte und geteilter Erwartungen in den Paar- und Eltern-Kind-Beziehungen zielen. Außerdem – so zeigte die Analyse – kommen im Austausch mit dem Jobcenter unterschiedliche familiale Sichtweisen zum Tragen. „Anonym-immunisierende“, „personenbezogene“ oder „strategische“ Auffassungen strukturieren den Austausch mit dem Jobcenter und schaffen darüber Freiheitsgrade im Familienleben gegenüber externen Vorgaben. Schließlich bietet die Studie erste Indizien für Prägewirkungen institutioneller Regulierungen in den Familienbiographien. Als folgenreich erweisen sich v.a. nicht-intendierte Wirkungen von SGB II-Vorgaben oder Vermittlungsstrategien für Eltern; und gerade in Phasen familialer Umbrüche und am Beginn des Leistungsbezugs entfalten Regulierungen störende bis stützende Effekte in den familialen Lebenswelten. Insgesamt liefern die Befunde wichtige konzeptionelle Anknüpfungspunkte für eine systematische Analyse der Variationen von Wechselwirkungen zwischen Familienstrukturen und Mindestsicherungssystemen, die im Rahmen größer angelegter und ländervergleichender Untersuchungen in Angriff genommen werden kann.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Families Receiving Basic Income Support in Germany. Relationship Structures, Institutional Contexts and Adaptive Strategies in “Poor Families”. Paper to be presented at 21st ESPAnet Annual Conference 07.-09.09.2023, Warsaw
Gräfe, Christian
