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Entzauberte Rituale. Spuren der Fluchtafeln und ihre Funktion in der Offenbarung des Johannes

Antragsteller Dr. Michael Hölscher
Fachliche Zuordnung Katholische Theologie
Förderung Förderung seit 2021
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 458878862
 
Die Johannesoffenbarung (Offb) liest sich wie ein Wettstreit zwischen Gott und den widergöttlichen Mächten, zwischen der richtigen und falschen religiösen Praxis. Auf beiden Seiten wird dabei mit allen verfügbaren Mitteln gekämpft. Auf der Ebene der Erzählung spiegelt sich diese Auseinandersetzung in Erzähltechniken, die an antike Bindezauber erinnern: Der Gott der Offb kann den Satan „binden“ und „lösen“, ihn sogar wie eine Zauberpuppe unterirdisch verbergen (Offb 20,3). Die gegnerische Hure Babylon soll – symbolisiert durch einen großen Stein – quasi rituell im Meer versenkt werden (Offb 18,21f.). Auf der göttlichen wie der widergöttlichen Seite können auch die Beschriftung und das Markieren von Körpern als rituell-bindend, und damit machtausübend, verstanden werden, wie dies bei den Bindezaubern typisch ist: Das Kennzeichen des Tieres (Offb 13,16) steht dem „Siegel des lebendigen Gottes“ (Offb 7,2f.) als wirkmächtiges Zeichen gegenüber. Wer als antiker Mensch die Offb gelesen oder gehört hat, konnte ganze Textpassagen oder auch nur einzelne Begriffe oder Motive mit diesen Bindezaubern in Verbindung bringen, die im Quellenbestand der sogenannten „Fluchtafeln“ (defixiones) ganz materiell überliefert sind. Diese Tafeln, die überwiegend in Form beschriebener Bleilamellen vom römischen Britannien bis nach Ägypten belegt sind, galten in der Antike offiziell als schwarze Magie, im römischen Recht waren solche Praktiken daher seit jeher verboten. Interessanterweise lehnt auch die Offb jegliche Form von Zauberei ab. Das entsprechende Wortfeld um Zauberei (Offb 18,23) oder Zauberer (Offb 9,21; 21,8; 22,15) ist in der Offb durchweg negativ besetzt. Wie lassen sich also diese Überschneidungen zwischen der Offb und den defixiones mit ihren rituellen Kontexten interpretieren, wenn zugleich Zauberei in der Offb deutlich negativ markiert wird? Diese Frage soll im Projekt beantwortet werden. Dabei sollen die Textbereiche in der Offb, die sich durch besonders deutliche Überschneidungen mit den Ritualvollzügen der defixio auszeichnen, vor dem Hintergrund des antiken Diskurses über Magie und Religion interpretiert werden. In diesem Diskursrahmen wird schließlich plausibel, warum bestimmte Aspekte des Defixionsrituals produktiv aufgegriffen und – gleichsam entzaubert – mit eigenen Akzenten versehen werden, während die gegnerische Seite mit ihren religiösen Vollzügen dämonisiert wird und damit den Stempel „Magie“ aufgedrückt bekommt. Der Diskurs über erlaubte und unerlaubte Rituale scheint in der Offb eine kulturelle Ressource darzustellen, mit deren Hilfe die Adressatinnen und Adressaten der Offb ihre Situation deuten und bewältigen konnten. Das Projekt erforscht damit Identitätskonstruktionen, Abgrenzungsprozesse und Krisenbewältigungsstrategien einer frühchristlichen Gruppe im Kleinasien des 1. Jh. n. Chr., die sich in einem besonders rätselhaft wirkenden biblischen Buch niedergeschlagen haben, zu dem das Material der Fluchtafeln einen neuen Schlüssel liefert.
DFG-Verfahren Sachbeihilfen
 
 

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