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Das Imperium und der Hunger: Identität, Teilhabe und Wirtschaftlichkeit im späten Zarenreich (1891-1914)
Antragsteller
Dr. Immo Rebitschek
Fachliche Zuordnung
Neuere und Neueste Geschichte (einschl. Europäische Geschichte der Neuzeit und Außereuropäische Geschichte)
Förderung
Förderung seit 2021
Projektkennung
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 464411100
Russlands Aufbruch ins 20. Jahrhundert führte durch eine Vielzahl von Katastrophen: neben Kriegen, Seuchen und Revolutionen erschütterte vor allem der Hunger beständig die Grundfesten des Imperiums. Seit 1891 führten Missernten zyklisch zu Nahrungsmittelknappheit in weiten Teilen der europäischen Provinzen Russlands. Jahr für Jahr erreichten Notrufe die Hauptstadt St. Petersburg, die Bevölkerung, wenn nicht vor dem Hungertod, so doch vor der Verelendung zu bewahren. Doch was als Geschichte von Agonie und Versagen eines sterbenden Imperiums – oder als Kehrseite einer ambivalenten Agrarentwicklung - überliefert wurde, birgt neue Einsichten als Geschichte der Krisenbewältigung.Die Definition und Bekämpfung von Hunger sind Kulturleistungen und zugleich das Produkt politischer und gesellschaftlicher Kraftanstrengungen. Das Projekt beleuchtet, wie Hungersnöte im ausgehenden Zarenreich als wirtschaftliche, politische und zivilisatorische Herausforderungen durch verschiedene Akteure wahrgenommen, beurteilt und bewältigt wurden. Wie gelang die Bewältigung immer wiederkehrender Ernteausfälle und welche Folgen ergeben sich aus dieser Auseinandersetzung für die Rollenerwartungen der Akteure an sich selbst und aneinander – als „Staat“ und als „Gesellschaft“?Das Projekt verfolgt auf der einen Seite, wie staatliche Funktionsträger zwischen 1891 und 1914 ein System der Krisenreaktion entwickelten und erprobten, das Russlands strukturelle Probleme nicht zu lösen vermochte, aber dafür Krisensymptome mildern, wirtschaftliche Schäden abfedern und gesellschaftliche Kräfte in autoritärer Weise für ein gemeinsames Anliegen einbinden konnte.Auf der anderen Seite wird deutlich, wie das liberale und revolutionäre Spektrum dieses System teilweise trug und zugleich daran zersplitterte. Weder in den Reihen der Duma noch im politischen Untergrund gelang die konsistente Auseinandersetzung mit dem Problem Hunger, auch weil es im Fahrwasser staatlich finanzierter Hilfsprogramme wenig Reibungsfläche gab, um eine eigene Strategie zu entwickeln.Am Beispiel Kazans und über Exkurse in multiethnische Peripherien untersucht das Projekt, wie die Autokratie soziale Missstände nicht einfach ausblendete, sondern Hunger als gesondertes politisches Problem aneignete und in Krisenzeiten das Imperium über die Kooptation lokaler Eliten, die Moderation diverser gesellschaftlicher Strömungen, die Festigung einer imperialen Identität und den Ausgleich wirtschaftlicher Belastungen zusammenhielt.
DFG-Verfahren
Sachbeihilfen