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Das imperiale Selbstverständnis russländischer Eliten im 18. und frühen 19. Jahrhundert

Fachliche Zuordnung Neuere und Neueste Geschichte (einschl. Europäische Geschichte der Neuzeit und Außereuropäische Geschichte)
Förderung Förderung von 2007 bis 2014
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 47039200
 
Erstellungsjahr 2014

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Mit der noch abzuschließenden Arbeit wird das 18. Jahrhundert als die entscheidende Periode für die Formierung eines imperial-kolonialen Selbstverständnisses im Russländischen Reich herausgearbeitet. Im Gegensatz zur weit verbreiteten Auffassung unter Russlands Neuzeithistorikern, wonach von einer Zivilisierungsmission erst im 19. Jahrhundert gesprochen werden könne, im 18. Jahrhundert hingegen es nur den einen, von Zar Peter I. angestoßenen Diskurs der Selbstzivilisierung gegeben habe, zeigt diese Arbeit, dass russländische Eliten seit Beginn des Jahrhunderts zunehmend die Andersartigkeit unterworfener oder noch zu unterwerfender Ethnien gegenüber russischen Untertanen thematisierten. Dieser Diskurs nährte sich aus einem wachsenden Gefühl der eigenen Überlegenheit und mündete gegen Mitte des 18. Jahrhunderts in eine Zivilisierungsmission, die sich nicht nur auf das Gebiet der Religion beschränkte, sondern genauso die Lebens- und Wirtschaftsweise der fremden Ethnien einschloss. Der fundamentale Wandel wird zu einem Teil auf der Grundlage der Analyse von Begriffsfeldern, Begriffen und Diskursen offengelegt. So wird erstmals in der Forschung nachgewiesen, dass sich in den Diskursen der politischen und bürokratischen Elite des 18. Jahrhunderts die Vorstellung von „Zivilisiertheit“ breit machte. Im Zentrum steht dabei der bislang unbeachtet gebliebene russische Begriff der ljudskost‘, der als zeitlich vorausgehendes Pendant zu den erst zwei Jahrzehnte später aufkommenden Begriffen der Civilization und Civilisation im Englischen bzw. Französischen sowie als Vorgänger des späteren graždanstvennost‘ im Russischen des 19. Jahrhunderts charakterisiert wird. Anders als ursprünglich geplant bleibt der Blickwinkel in der Arbeit jedoch nicht allein auf die Denkweisen und Wahrnehmungen der Elite gerichtet. In einem zweiten Teil werden vielmehr auch imperialkoloniale Praktiken herausgearbeitet, wie sie sich zu Beginn oder im Laufe des 18. Jahrhunderts formierten. Dabei spielt das Konzept und die Rechtsfigur der russischen Untertanenschaft (Poddanstvo) eine prominente Rolle, die zum wichtigsten Mittel der Expansions- und Integrationspolitik russländischer Eliten aufstieg. Überraschend entpuppte sich die Praxis der Geiselnahme (Amanatstvo) als fruchtbarstes Beispiel, um die sich allmählich formierende russische Zivilisierungsmission zu demonstrieren. Leibpfänder aus der indigenen Bevölkerung wurden nicht länger wie Jahrhunderte zuvor bloß als Mittel angesehen, um den Status der Untertanenschaft zu bekräftigen und den Gehorsam von deren Stammesleuten sicherzustellen. Stattdessen entdeckten russische Beamten an der Peripherie die Geiseln selbst als Objekte imperial-kolonialer Ziele. Die neue Politik zielte darauf, mittels der Geiseln nach deren Zurücksendung die Kulturen der fremden Völker nachhaltig zu verändern. Es galt, die neuen Untertanen die Herrschaft des (russischen) Rechts zu lehren, die Sesshaftigkeit, das Ackerbauertum, die russische Sprache und häufig auch den russisch-orthodoxen Glauben. Diese Mission unterlag freilich noch nicht einer Nationalisierung. Die russländische imperiale Elite sah sich und das russische Volk vielmehr im Dienste der Aufklärung und als Teil einer universellen Zivilisation, die in der Lage war, mit der Zeit die Wildheit von noch barbarisch verbliebenen Völkern zu bezwingen. Auf diese Politik der Intervention kann zweifelsohne der Begriff des Kolonialismus angewendet werden. Die Arbeit schafft damit neue Grundlagen für die komparative Imperiums- und Kolonialforschung. Zudem liegt es nahe, die Ergebnisse des Buches in die international geführte Debatte um die Frage nach einem möglichen Zusammenhang von Aufklärung und Kolonialismus einzubringen.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • Das Imperium als Thema der russischen Geschichte. Tendenzen und Perspektiven der jüngeren Forschung. In: Martin Schulze Wessel (Hg.): Eine Standortbestimmung der osteuropäischen Geschichte = Zeitenblicke 6 (2007), Nr. 2
    Ricarda Vulpius
  • Neue Imperiumsforschung in der Osteuropäischen Geschichte: die Habsburger Monarchie, das Russländische Reich und die Sowjetunion. In: Comparativ 18 (2008), H. 2, 27-56
    Ricarda Vulpius (zs. mit Kerstin S. Jobst/ Julia Obertreis)
  • Imperium inter pares: Rol‘ transferov v istorii Rossijskoj Imperii [Die Rolle von Transfers in der Entstehung und Ausgestaltung des Russländischen Imperiums]. (1700-1917), Moskau 2010
    Ricarda Vulpius (zs. mit Martin Aust/ Aleksej Miller) (Hrsg.)
  • Vesternizacija Rossii i formirovanie Rossijskoj civilizatorskoj missii v XVIII veke [Die Verwestlichung Rußlands und die Entstehung einer russländischen Zivilisierungsmission im 18. Jh.]. In: Martin Aust/ Ricarda Vulpius/ Aleksej Miller: Imperium inter pares: Rol‘ transferov v istorii Rossijskoj Imperii (1700-1917), Moskau 2010,14-41
    Ricarda Vulpius
  • K semantike ‚imperii‘ v Rossii XVIII veka: ponjatijnoe pole „civilizacii“ [Zur Semantik des ‚Imperiums‘ im Rußland des 18. Jh.: das Begriffsfeld der „Zivilisation“]. In: Aleksej Miller/ Denis Sdvižkov/ Ingrid Schierle (Hg.): „Ponjatija o Rossii“. K istoričeskoj semantike imperskogo perioda (Historia Rossica – studia europaea, Vyp. 1). Bd1 – 2, hier Bd. 2: Nacija i Imperija, Organizacija, Prostranstva, Moskau 2012, 50-70
    Ricarda Vulpius
  • Kulturgeschichte und Imperium im russischen 18. Jahrhundert. In: Bianka Pietrow-Ennker (Hg.): Russlands imperiale Macht. Integrationsstrategien und ihre Reichweite in transnationaler Perspektive. Konstanz 2012, 37-53
    Ricarda Vulpius
  • The Russian Empire's Civilizing Mission in the Eighteenth Century. A Comparative Perspective. In: Uyama Tomohiko (Hg.): Asiatic Russia. Imperial power in regional and international contexts. London/ New York 2012, 13-31
    Ricarda Vulpius
 
 

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