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Erzählen am Ende der Zivilisation: Kartierung, Kontextualisierung und Analyse von landschaftsbezogenen Erzähltraditionen in den isländischen Westfjorden
Antragsteller
Professor Dr. Matthias Egeler
Fachliche Zuordnung
Europäische und Amerikanische Literatur- und Kulturwissenschaften
Förderung
Förderung seit 2022
Projektkennung
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 495416732
Das Projekt will unsere letzte Chance nutzen, Erzähltraditionen im Norden der isländischen Westfjorde zu kontextualisieren und zu analysieren, ehe der demographische Kollaps der Region zum Verlust dieses reichen Erzählerbes führt. Denn der Norden der Region Strandir steht in doppelter Hinsicht – räumlich wie zeitlich – am Ende der Zivilisation. Räumlich bildet er, als der nördlichste bewohnte Teil der Region, heute die äußerste Peripherie des besiedelten Landes; und zeitlich steht seine Aufgabe als Siedlungsland nach Jahrzehnten des Bevölkerungsschwunds und der Schließung der letzten lokalen Schule im Jahr 2018 in absehbarer Zeit bevor.Für die Forschung droht damit der Verlust zentraler Kontextinformationen, die für die Analyse eines äußerst reichen immateriellen Kulturerbes notwendig sind. Seit der Mitte des 19. Jhs. werden Erzähltraditionen in der Region systematisch dokumentiert. Dadurch wurden Archive geschaffen, die weithin ihresgleichen suchen. Die dort gesammelten Narrative nehmen jedoch so intensiv auf die lokale Topographie und Landnutzung Bezug, dass ihr Verständnis ohne Kontextinformationen zum Land und seiner Nutzung oft unmöglich ist. Solche Kontexte werden in den existierenden Materialien jedoch nur durch Bezugnahme auf Flurnamen gegeben, die nie kartiert worden und heute nur noch der Generation der über 70-Jährigen bekannt sind. Damit ist eine replizierbare Analyse durch nicht-Einheimische bislang praktisch unmöglich. Das Projekt wird die Grundlage für umfassende, replizierbare Analysen schaffen, indem es die im Verschwinden begriffene Ortsnamenlandschaft dokumentiert, die Erzählorte kartiert, relevante Kontexte aufzeichnet und so Informationen sichert, die für die Analyse der Archivbestände unentbehrlich sind.Die paradigmatische Bedeutung dieses Materials wird durch exemplarische Analysen aufgezeigt. Sobald die Handlungsorte dieser Erzählkultur erfasst worden sind, erlaubt ihre extreme Dichte die Entwicklung neuer Perspektiven auf aktuelle Forschungsdiskurse. Exemplarische Analysen werden zu zwei Diskursen neue Beiträge leisten: (1) zur skandinavistischen Forschungsdiskussion zur Rezeption mittelalterlicher Sagaliteratur im 19. und 20. Jh.; und (2) zu theoretisch orientierten Forschungsdiskussionen über die grundlegenden Mechanismen landschaftsbezogenen Erzählens im Kontext des „ecocriticism“.Eine zeitgemäße Umsetzung des Projekts wird, neben einer Promotionsschrift und einer Monographie, zu einer digitalen Datenbank führen, die in Kollaboration mit dem Volkskundezentrum der Universität Islands in Hólmavík und der IT-Gruppe Geisteswissenschaften der LMU München erstellt wird. Diese Datenbank ergänzt die existierenden Archive und macht die Kontexte der bearbeiteten Erzähltradition über eine Webseite und die Ablage der Daten in einem Forschungsdatenrepositorium dauerhaft allgemein zugänglich. Damit erarbeitet das Projekt zugleich ein Modell für die Sicherung der Kontexte von Erzähltraditionen in Situationen kulturellen Wandels.
DFG-Verfahren
Sachbeihilfen
Internationaler Bezug
Island
Mitverantwortlich
Dr. Christian Riepl
Kooperationspartnerinnen / Kooperationspartner
Jón Jónsson; Ester Sigfúsdóttir