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Gefährliche Affären. Der Gefährlichkeitskomplex, Psychiatriereformen und die Entwicklung der Menschenrechte in Europa (1950-2000)

Antragstellerin Dr. Chantal Marazia
Fachliche Zuordnung Wissenschaftsgeschichte
Neuere und Neueste Geschichte (einschl. Europäische Geschichte der Neuzeit und Außereuropäische Geschichte)
Förderung Förderung seit 2023
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 510626006
 
Die Identifizierung, Unterbringung und Behandlung psychisch kranker Straftäter*innen und gefährlicher psychiatrischer Patient*innen – kurz: der Gefährlichkeitskomplex – beruht Europa auf einer Vielzahl von Ansätzen, die sehr unterschiedliche historische Entwicklungen im juristischen, medizinischen und institutionellen Bereich widerspiegeln. Während Expert*innen auf diesem Gebiet eine Harmonisierung fordern, herrscht weder Konsens über die Ursachen dieser Vielfältigkeit, noch gibt es gesicherte Erkenntnisse über die jeweils wirkenden Triebkräfte der nationalen Entwicklungen seit dem Zweiten Weltkrieg. Zur Erklärung nationaler Unterschiede wurden verschiedene allgemeine Modelle vorgeschlagen (Rechtstraditionen, Transinstitutionalisierung, "Risikokultur"). Sie alle weisen jedoch hinsichtlich ihrer Erklärungskraft oder der Klarheit der angewandten analytischen Kategorien schwerwiegende Mängel auf. Das Projekt zielt darauf ab, durch eine empirisch fundierte historische Analyse dreier nationaler Systeme der forensischen Psychiatrie in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg – in Frankreich, Deutschland und Italien – einen Beitrag zu dieser Debatte zu leisten. Leithypothese ist, dass die Veränderungen des Gefährlichkeitskomplexes durch die sich in dieser Zeitphase in einer komplexen Dynamik wandelnden Beziehungen zwischen Psychiatrie und Recht geprägt wurden; konkreter, dass sie insbesondere die (Wieder-)Herstellung der Rechte als Ziel und Instrument im Bereich der psychischen Gesundheit widerspiegeln. Wir gehen davon aus, dass die Globalisierung der Menschenrechte, die transnationale Mobilisierung für diese Rechte und die nationalen Reformprozesse im Bereich des Strafrechts und psychiatrischer Einrichtungen eine Schlüsselrolle spielten. Das Projekt gliedert sich in drei Forschungsstränge. Erstens werden wir die Strukturen (Wissensbestände, Institutionen, Technologien, klinische und juristische Praktiken) kartieren, auf die sich die zeitgenössische Konzeption und der Umgang mit gefährlicher psychischer Krankheit in den drei Ländern stützte, sowie deren Beziehung zu den Psychiatriereformen zwischen den 1950er und 2000er Jahren. Zweitens werden wir ein Repertoire mit Fällen und Affären erstellen und analysieren, welche die forensische Psychiatrie in diesem Zeitraum betreffen. Diese Affären werden im Hinblick auf ihren exemplarischen Charakter (als Beispiele für die sich entwickelnden Normen, Ideale, Erwartungen und Wahrnehmungen in einer bestimmten Gesellschaft) sowie auf ihre performative/transformative Kraft betrachtet. Drittens werden wir die Rolle nationaler und transnationaler Bewegungen und Vereine für die Menschenrechte von Psychiatriepatient*innen bei der Transformation des Umgangs mit Gefährlichkeit untersuchen. Wir leisten eine Analyse der Entstehung und Entwicklung dieser Bewegungen und ihrer Anliegen und überprüfen ihren anhaltenden Einfluss auf die Debatten über psychiatrische und soziale Gefährlichkeit auf nationaler und internationaler Ebene.
DFG-Verfahren Sachbeihilfen
Internationaler Bezug Frankreich
Kooperationspartner Dr. Nicolas Henckes
 
 

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