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Von der "Völkerfamilie" zum Homo Soveticus Medizinische Biopolitik in der UdSSR

Fachliche Zuordnung Neuere und Neueste Geschichte (einschl. Europäische Geschichte der Neuzeit und Außereuropäische Geschichte)
Förderung Förderung seit 2023
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 522699240
 
Ziel des Projekts ist die erste archivbasierte Gesamtdarstellung von mehr als siebzig Jahren sowjetischer medizinischer Biopolitik. Als Biopolitik gelten Strategien des modernen Staates, die auf die Kontrolle der Bevölkerung und der Körper seiner Bürger zielen. Medizin ist ein Schlüsselelement dieses Projekts: Sie bietet sowohl eine wissenschaftliche Legitimation als auch ein Mittel zur sozialen Disziplinierung (durch sanitäre und hygienische Vorschriften, Körpernormen oder medizinische Untersuchungen). Das Hauptargument ist, dass die Regulierung des menschlichen Körpers, der Gesundheit und der Krankheiten in der UdSSR nicht nur von zentraler Bedeutung für das Projekt einer alternativen Moderne war, sondern auch das einflussreichste sowjetische Sozialexperiment überhaupt. Dieser Erfolg äußerte sich jedoch nicht in einer höheren Lebenserwartung oder in der Eindämmung von Epidemien. Vielmehr sollte die medizinische Biopolitik den Zusammenhalt der sowjetischen Bevölkerung fördern. Biopolitik trug dazu bei, die „alten“ ethnisch-kulturellen Nationen des Zarenreichs zu einer „neuen“ Kulturnation, dem Sowjetvolk, zu verschmelzen. Nationale Unterschiede sollten nicht nur durch die bolschewistische Ideologie, sondern auch durch die Schaffung eines Neuen Menschen überwunden werden. Er (und weniger: sie) wurde bislang hauptsächlich als kulturell-literarische Figur und heroisches Ideal untersucht. Diese Vorstellung war jedoch sehr stark in den körperlichen Praktiken, der Leibeserziehung und dem Gesundheitsregeln verankert, die solche Bürger hervorbringen sollten - d. h. in der medizinischen Biopolitik. Ihre Ergebnisse waren aber nicht besonders heldenhaft. Der gesunde und übermächtige, transhumane „Homo Creator“, der in den 1920er Jahren erdacht wurde, entwickelte sich zu einem unterwürfigen und misstrauischen "Homo Soveticus". Das Erbe dieser Bestrebungen ist noch heute in Russland mit seinem Kult der militärischen Männlichkeit zu sehen – begleitet von Gleichgültigkeit gegenüber Korona-Impfungen oder politischen Protesten. Anhand von Fallstudien - von der Genetik über die Frauengesundheit bis hin zu öffentlichen Diskursen - untersucht das Projekt, wie die biosozialen Ziele von medizinischen Experten in umgesetzt wurden und wie das sowjetische Ideal der biopolitischen Homogenisierung antisowjetische Nationalismen auslöste. Zwei geografische Schwerpunkte liegen in Russland (Sibirien und Tatarstan) und zwei in ehemaligen Sowjetrepubliken (Lettland und Georgien), wo Ärzte eine wichtige Rolle in den nationalen Bewegungen spielten. Die Ergebnisse des Projekts werden in einer Monographie veröffentlicht. Das Buch wird dazu beitragen, nicht nur den Aufstieg der spätsowjetischen Nationalismen zu verstehen, sondern auch die Verbreitung des Rassismus, die Verinnerlichung der Rhetorik der Körperreinheit und der nationalen Hygiene. Darüber hinaus zielt das Projekt darauf ab, die sowjetische Biopolitik als neues Forschungsfeld zu etablieren.
DFG-Verfahren Sachbeihilfen
 
 

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