Die Arbeiter-und Bauern-Fakultät (ABF) Greifswald. Eine biografische Institutionenanalyse
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Am Beispiel der von 1946 bis 1962 in der DDR existierenden ABF Greifwald wurde der Prozess der Institutionalisierung einer Bildungsinstitution nachgezeichnet. Basis dafür waren Recherchen in allen einschlägigen Archiven sowie biografisch-narrative Interviews mit Lehrkräften. Für diese biografische Institutionenanalyse wurde das Verfahren der Vier-Ebenen-Analyse biografischen Materials theoretisch entwickelt und empirisch umgesetzt. Dieses Verfahren verbindet biografische Methoden der Geschichtswissenschaft mit denen einer sozialwissenschaftlichen Biografieanalyse. Mit diesem Verfahren ist es möglich, sowohl die zeithistorisch interessierenden Fragen zu untersuchen, als dass es durch den Einbezug zweier verschiedener Typologien (deskriptiv und genetisch-strukturell) auch möglich wurde theoretisch anschlussfähig an allgemeine theoretische Diskurse zu bleiben. Außerdem wurde hier eine Möglichkeit zur intersubjektiv nachprüfbaren Analyse von Ego-Dokumenten zur Verfügung gestellt. In der Studie konnte nachgezeichnet werden, wie im Prozess der Institutionalisierung biografische Prägungen institutionell gezielt zur Umsetzung der Leitideen der Institution (soziale Gerechtigkeit, „Faschismusprophylaxe", Machtsicherung) genutzt wurden. Dafür wurden vier Biografien als hermeneutische Einzelfälle rekonstruiert, aus denen drei Typen (NS-Abgrenzungstypus, Gerechtigkeitstypus, Funkfionalitätstypus) gebildet wurden. Genauso konnte nachgezeichnet werden, dass sich zu einem Großteil gerade biografische Prägungen als anschlussfähig erwiesen, die dies nach offizieller Leitidee gar nicht hätten sein dürfen (protestantische Arbeitsethik, preußisch-militaristische Grundsozialisation, bildungsbürgerliche Traditionen und Mentalitäten). Im Anschluss an die Konzeption von Lüdtke sprechen wir von Institutionalisierung als sozialer Praxis. Damit wird der Blick zum einen darauf eröffnet, dass Institutionalisierung nicht nur Ergebnis administrativer Entscheidungen, sondern Ergebnis sozialen Handelns und biografischer Verarbeitungen ist. Gleichzeitig kommt in den Blick, dass diese interaktiven Herstellungsprozesse nicht nur auf einer horizontalen Ebene erfolgen, sondern auch eine vertikale Dimension beinhalten, d.h. Macht- und Herrschaftsverhältnisse konstitutiver Teil von Institutionalisierung sind. In der Studie wurde die Entwicklung und Veränderung des Zusammenhanges von Bildung und sozialer Ungleichheit, vor allem hinsichtlich des Zuganges zu weiterführender Bildung, für den gesamten Zeitraum der Existenz der DDR (1945-1990) nachgezeichnet. Die Studie stellt die erste Gesamtdarstellung für diesen Themenbereich dar und liefert viele bisher in dieser Form nicht publizierte Primärdaten. Empirische Basis bilden umfangreicher Archivrecherchen, ein standardisierter Fragebogen, sowie narrative Interviews für Absolvent(inn)en der ABF. In der Studie konnte differenziert aufgezeigt werden, dass von Seiten der DDR-Führung bereits ab Ende der fünfziger Jahre und verstärkt ab Anfang der sechziger Jahre eine Abkehr von der offiziell propagierten gegenprivilegierenden Bildungspolitik erfolgte. Äußerer Ausdruck dieser Entwicklung war die Schließung der ABF der DDR zu Beginn der sechziger Jahre, deren Geschichte und Funktion in der Studie ausführlich dargestellt sind. Diesbezüglich stellt die Studie auch die erste Untersuchung dar, die die Geschichte der ABF der DDR insgesamt in den Blick nimmt. Neben diesen zeithistorisch und bildungspolitisch relevanten Ergebnissen verfolgte die Studie v.a. ein genuin theoretisches Interesse. So wird der ursprünglich für soziale Bewegungen entwickelte Political Process Ansatz (Konzept politischer Gelegenheitsstrukturen) auf eine bildungssoziologische Fragestellung übertragen. Dieses Konzept ermöglicht den Einbezug externer Faktoren und stellt damit eine Möglichkeit dar Konjunkturen bildungspolitischer Entwicklungen zu erfassen. Mit Hilfe dieses Konzeptes konnten vier verschiedene Perioden einer gegenprivilegierenden Bildungspolitik beschrieben werden: 1. Periode: Offene Gelegenheitsstrukturen für zivilgesellschaftliche Akteure (1945-1948) 2. Periode: Aktive gegenprivilegierende Bildungspolitik und maximale Öffnung der Chancen für Arbeiter und Bauern (1948-1962) 3. Schließung der Chancenstrukturen für Arbeiter und Bauern und Öffnung für Frauen (1963- 1971) 4. Periode: Selbstrekrutierung der neuen Intelligenz beiderlei Geschlechts (1972-1989) Eine weitere theoretische Innovation stellt die Erweiterung bzw. Modifizierung der von Bourdieu vorgeschlagenen Kategorie des „politischen Kapitals" dar. Die in der Studie vorgenommene Unterscheidung in „ererbtes" und „erworbenes" politisches Kapital bietet ein Begriffsinstrumentarium, das sich als hilfreich erweist, um bildungspolitische Entwicklungen und Entscheidungen in der DDR begrifflich zu fassen.