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Strategien der Kritik. Eine systematische Rekonstruktion der Debatte um den Antisemitismus-Skandal auf der documenta fifteen

Antragsteller Georg Simmerl
Fachliche Zuordnung Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft; Kulturwissenschaft
Soziologische Theorie
Förderung Förderung seit 2024
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 535798180
 
Im Jahr 2022 hat die fünfzehnte Ausgabe der „Weltkunstschau“ documenta eine einschneidende Debatte in der deutschen Öffentlichkeit ausgelöst, in der vor allem darum gestritten wurde, wie Antisemitismus – zumal in Kunstwerken – zu erkennen ist, welche Rolle dieser in Deutschland und im „globalen Süden“ spielt und wo die Grenzen der Freiheit einer politisierten Gegenwartskunst zu ziehen sind. Das vorliegende kulturwissenschaftliche Forschungsprojekt, das den methodischen und theoretischen Austausch mit der Soziologie sucht, unternimmt eine systematische Rekonstruktion dieser Debatte. Dazu führt es eine umfassende Sammlung von Meinungsäußerungen durch, die im Debattenverlauf in deutschen Zeitungen und auf dem sozialen Netzwerk Twitter getätigt wurden, und unterzieht sie einer Diskursanalyse. Deren leitende Fragestellung ergibt sich aus einem Problembewusstsein, das bereits unter den Beteiligten dieser Debatte verbreitet war. In ihr galten verschiedene Formen der Kritik – v.a. der Israelkritik – als potentielle Träger von Antisemitismus, dessen Vorliegen zumeist an Kunstwerken aufzuweisen war und eine differenzierte Kunstkritik erfordert hätte. Der von der jeweiligen Gegenseite geübten Kritik wurde jedoch oft vorgeworfen, weniger einer deliberativen, als vielmehr einer polemischen Logik oder gar einer unausgesprochenen Agenda zu folgen (etwa Antisemitismus verdeckt zu verbreiten oder durch solche Vorwürfe legitime Kritik zu unterdrücken). Deshalb untersucht dieses Projekt in methodischer Weiterentwicklung von Luc Boltanskis Soziologie der Kritik, welche Verfahren der Kritik von den Beteiligten dieser Debatte tatsächlich angewandt wurden, d.h. wie sie Urteile gefällt, Unterscheidungen aufgemacht und in den Meinungsstreit eingegriffen haben – und in welches Verhältnis sie dadurch zueinander traten. Die documenta-Debatte entlang dieser Fragestellung zu rekonstruieren, generiert ein reflexives Wissen über sie und eröffnet zugleich sozialtheoretische Einsichten in ein akutes Problem liberaler Gesellschaften. Denn das Projekt verfolgt die These, dass sich in dieser Debatte weder ein spezifisch deutscher Umgang mit Antisemitismus noch eine von sozialen Medien getriebene Polarisierungsdynamik ausprägte, sondern das Problem, dass Kritik in liberalen Öffentlichkeiten auch strategisch geübt werden kann. Da sich dort selbst eine antisemitische Kritik auf die Kunst- und Meinungsfreiheit berufen kann und von dieser weitgehend geschützt wird, provoziert sie informelle Einhegungsbemühungen – allen voran eine ebenso strategische Gegen-Kritik. Letztlich fragt dieses Projekt daher nach den in diesem Disput zum Einsatz gebrachten Strategien der Kritik. Es führt dieses Thema in die interdisziplinäre Kritik-Forschung ein und bringt sie dadurch mit der Antisemitismus-Forschung ins Gespräch, während eine umfassende Aufarbeitung der documenta-Debatte ein Desiderat ist, auf das der Forschungsstand zu ihr verweist, und ihre gesellschaftspolitische Bedeutung bekräftigen würde.
DFG-Verfahren Sachbeihilfen
 
 

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