Chinesische volksreligiöse Schriften (baojuan)
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Das Ziel des Projekts war die Untersuchung von religiösen Schriften, baojuan ("Schatzrollen"), die etwa vom 15. bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts in volksreligiösen Sekten entstanden und verbreitet wurden. Der Schwerpunkt der Untersuchungen lag auf der Rekonstruktion der Kontexte religiöser Textproduktion. Leitfragen waren: Was läßt sich aus den baojuan selbst und aus externen Quellen über die Kontexte der baojuan-Produktion und -performanz lernen? In welche religiösen oder auch nichtreligiösen Handlungen involvieren die baojuan ihre "Benutzer". Was geschieht genau im rituellen Akt der baojuan-Rezitation? Am Beispiel der "Drachenblumenschrift" (Longhua baojing), einem baojuan, dessen Bedeutung im volksreligiösen Milieu mit der des Lotrus-Sutra für die Buddhisten vergleichbar ist, wurden Ablauf und Liturgie der religiösen Versammlung rekonstruiert, in deren Zentrum die "Offenbarung" der Schrift stand. Baojuan-Performances sind religiöse Multimedia-Events, in welchen Textrezitation, Gesang, Percussion, Bilder und (womöglich) Bewegungen zu einer komplexen liturgischen Struktur verschmelzen. Diese rituelle Struktur spiegeln die Texte in ihrer Komplexität wieder. Veränderungen in den Texten dokumentieren die sich wandelnde religiöse Praxis in volksreligiösen Gruppen. Religiöse Texte werden, sowohl in der Religionswissenschaft als auch in der Sinologie, häufig als "heilige Schriften" oder "sacred scriptures" bezeichnet. "Heilige Texte" ist ein substanzialistischer Begriff, durch den einem Text bestimmte Realeigenschaften zugeschrieben werden. Während es richtig ist, daß baojuan in den meisten religiösen Gemeinschaften ein Status zugesprochen wurde, der dem eines "heiligen Textes" in anderen Religionen vergleichbar ist, so ist der Begriff selbst und die ihm zugrundeliegenden Konzepte doch zu eng, um die Bedeutung der baojuan adäquat zu beschreiben. Die Untersuchungen an den baojuan konzentrierten sich deshalb auf die Kontexte der Produktion, Tradition und Rezeption der Texte, mit dem Ziel, die dem jeweiligen Kontext zugrundeliegenden 'Situationslogiken' zu erfassen. Baojuan sind nicht bloß ein Textmedium, dessen primäre oder gar ausschließliche Aufgabe in der Weitergabe und Verbreitung von religiösen Inhalten besteht. Die Texte in ihrem Text-Sein sind von zentraler Bedeutung, als sie ihre "Nutzer" (der Begriff "Leser" ist viel zu eng) in diverse Aktivitäten wie Produktion, Zirkulation, Sammlung, Auslegung oder Verehrung als des Textes als religiöses Objekt involvieren. Die Formen des Umgangs mit religiösen Texten haben direkten Einfluß auf Handeln und Organisation der Mitglieder religiöser Gemeinschaften. Ein Ergebnis des Projekts besteht darin, den für die römische Religion bereits von dem Religionswissenschaftler Jörg Rüpke postulierten Zusammenhang von Text und religiösem Handeln für die baojuan herausgearbeitet und an Beispielen dokumentiert zu haben. Es konnte gezeigt werden, daß die meisten Texte nicht nur - und in einigen Fällen nicht einmal primär - Wissen zur religiösen Deutung der Welt vermittelten. Neben detaillierten Anweisungen zum rechten Handeln während des Rituals können baojuan Handlungsanweisungen zum Aufbau der religiösen Organisation enthalten. Die "Drachenblumenschrift" (Longhua baojing) etwa enthält eine Titelliste von Offiziellen der Sekte sowie eine Bibliographie der wichtigsten Schriften. Andere baojuan enthalten Rollenskripte für die Mitglieder sowie implizite Anweisungen zur Rechtfertigung religiöser Autorität. Die Bedeutung der baojuan für den Aufbau und Bestand volksreligiöser Gruppen ist groß, da der Verlust oder eine zu geringe Zahl von Texten einerseits zum Verlust von Organisationswissen und von Anhängern und somit zur Auflösung der Gruppe führen kann. Es ist zu vermuten, auch wenn ein eindeutiger Beweis schwerlich zu erbringen ist, daß es genau diese Funktion der baojuan als Instrumente der Organisationsbildung, und nicht etwa die in ihnen enthaltenen religiösen Lehren waren, welche die baojuan den kaiserlichen Beamten so gefährlich erscheinen ließ. Ein eindeutiger Zusammenhang zwischen Art (Druck/Manuskript) und Grad der Verbreitung von baojuan und dem Rebellionspotential von volksreligiösen Gruppen konnte indes nicht nachgewiesen werden.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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"Taiping-Aufstand (1851-1864)". Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Bd. 8. Hrsg. von Hans Dieter Betz und anderen. Tübingen: Mohr, 2005, Spalten 10-11.