Sinnperspektiven und Lebenszeitreserven: Handlungs- und Sinnorientierungen im höheren Alter und bei Vergegenwärtigung des Lebensendes
Final Report Abstract
Forschungsleitend für das SLZ-Projekt war die Annahme, dass das Erleben knapper werdender lebenszeitlicher Ressourcen und ein gesteigertes Bewusstsein der Endlichkeit des Lebens tiefgreifenden Einfluss auf Rationalitäts- und Sinnperspektiven im Alter haben: Individualistisch-extrinsische Zielorientierungen, die auf persönliche Vorteile in der Zukunft abstellen, sollten gedämpft werden; zugleich sollten ich- und zeittranszendente Orientierungen an Einfluss gewinnen, die nicht in gleichem Maße an die Voraussetzung einer persönlich erlebbaren Zukunft gebunden sind. Die theoretische Grundlage für diese Annahme liefert das Modell assimilativer und akkommodativer Bewältigungsformen . Beide adaptiven Prozesse tragen dazu bei, Ziele und Handlungsmöglichkeiten aufeinander abzustimmen und Diskrepanzen zwischen gewünschten und faktischen Entwicklungsverlaufen zu reduzieren; Im assimilativen Modus geschieht dies durch aktive Eingriffe in die aktuellen Lebens- und Entwicklungsbedingungen, im akkommodativen Modus durch die Anpassung von Zielen und Ambitionen an gegebene Handlungs- und Entwicklungspotentiale. Zu den wichtigsten Handlungsressourcen gehört nun aber Zeit: Die altersinhärente Abnahme lebenszeitlicher Reserven sollte aus akkommodationstheoretischer Sicht Tendenzen zur Ablösung von solchen Zielen aktivieren, die eine persönlich erlebbare Zukunft voraussetzen - und damit vielleicht auch eine grundlegende Reorientierung hin auf intrinsische, „ich-transzendente" Orientierungen begünstigen. Die im SLZ-Projekt gesammelten empirischen Befunde stützen diese Annahme. Im Vergleich verschiedener Altersgruppen (Altersbereich 35 bis 84 Jahre) zeigte sich bei älteren Teilnehmern eine geringere Betonung von auf Macht, Erfolg und Kompetenzerwerb gerichteten Zielorientierungen, dagegen treten intrinsisch-wertrationale Orientierungen wie altruistisches Engagement, Spiritualität und Authentizität verstärkt in den Vordergrund. Ein partiell ähnliches Muster fand sich auch unter experimentell induzierter „Mortalitätssalienz" (s. oben). Dies stützt die Annahme, dass die angesprochenen akkommodativen Verschiebungen weniger durch das Alter bzw. die zurückgelegte Lebenszeitstrecke als durch Veränderungen der Zeit- und Zukunftsperspektive bedingt sind. Letztere sind im Allgemeinen mit der bisherigen Lebenszeitdauer konfundiert, müssen von dieser jedoch - zumal im vorliegenden Forschungszusammenhang - theoretisch getrennt werden. Wie bereits angesprochen entsprechen die Verfahren zur Induktion von Mortalitätssalienz, die sich im vorliegenden Projekt als wirksam erwiesen haben, z.T. den Prozeduren, wie sich auch im Rahmen der Terror Management Theory (TMT) zur Erzeugung von „Mortalitätssalienz" angewendet werden (s. etwa Solomon et al., 1991). Es könnte daher gefragt werden, ob die im SLZ-Projekt beobachteten Effekte nicht auch Ausdruck einer verstärkten Identifikaton mit einem vorherrschenden cultural world view gedeutet werden können, die in der TMT als zentraler Mechanismus der Abwehr von Todesfurcht betrachtet wird. Umgekehrt könnte vielleicht auch gefragt werden, ob nicht die im Rahmen der TMT berichteten Befunde zumindest teilweise durch die unter Mortalitätssalienz mutmaßlich veränderte Zukunftsperspektive und die damit verbundenen Akkommodationstendenzen vermittelt werden. Im Hinblick auf diese Fragen ist die Asymmetrie des hier beobachteten „Memento-Effektes" bemerkenswert: Nach Vorschaltung der Fragen zur Induktion von Mortalisitätssalienz kommt es primär zu einer Dämpfung extrinsisch-instrumenteller Orientierungen. Dies weist eher auf einen akkommodativen Prozess als auf defensive Mechanismen im Sinne der TMT hin. Konsistent hiermit erscheint auch, dass es unter Mortalitätsinduktion zu einer Dämpfung von Tendenzen zu „hartnäckiger Zielverfolgung“ kommt. Darüber hinaus fanden sich in Begleitstudien keine Hinweise auf Abwertungen normabweichenden Verhaltens unter Mortalitätsinduktion, sondern eher Tendenzen zu einer größeren Bewertungstoleranz, was vielleicht mit einer - durch ein gesteigertes Bewusstsein der Endlichkeit bedingten - distanziert-kontemplativen Lebensperspektive zusammenhängt. Diese Beobachtungen bedürfen allerdings noch der weiteren empirischen Absicherung. Insgesamt spricht dieses Befundmuster dafür, dass dem beschriebenen Memento-Effekt nicht primär Todesangst, sondern ein erhöhtes Bewusstsein der Endlichkeit bzw. Begrenztheit der eigenen Zukunft zugrundeliegt. Allerdings sind diese beiden Faktoren oft konfundiert. In Anschlussuntersuchungen wurde deshalb versucht, Auswirkungen auf die Zeitwahrnehmung bzw. auf Zeitwahrnehmungseffekte genauer herauszuarbeiten. Primäre Zielsetzung des SLZ-Projektes war es, Einflüsse einer Reduzierung von Lebenszeitreserven auf die Akkommodation von Rationalitäts- und Zielperspektiven zu analysieren. Dabei ergaben sich zwangsläufig auch Berührungspunkte zur Weisheitsthematik: Weisheit wird vielfach mit dem Erkennen der Beschränkungen menschlichen Lebens verbunden, woraus sich Beziehungen zum Akkommodationskonzept ergeben. Der Faktor veränderter subjektiver Lebenszeitreserven findet als Bedingung der Handlungsregulation und der Befindlichkeit im Alter zunehmend Beachtung; allerdings hat die psychologische Forschung zur Weisheitsthematik diesen Faktor bislang noch weitgehend vernachlässigt. Die Auflösung egozentrischer Einengungen der Lebens- und Handlungsperspektive und die gegen" Lebensende dringlicher erlebte "Notwendigkeit, knappe Lebenszeit sinnvoll zu nutzen, kann die Orientierung auf umfassende Sinnzusammenhänge erleichtern und sich - in Verbindung mit lebenspraktischer Expertise, intellektuellen Kompetenzen und Persönlichkeitsmerkmalen wie Offenheit und Ambiguitätstoleranz - zu jenem komplexen Bündel von Kompetenzen und existentiellen Einstellungen verdichten, die wir mit dem Begriff Weisheit verbinden. Das Bewusstsein von Grenzen - und insbesondere die Grenzerfahrung des näherrückenden Lebensendes - begünstigt offensichtlich akkommodative Prozesse, die eine Abschwächung extrinsisch-instrumenteller Ziele begünstigen: In dem Maße, wie subjektiv erlebbare Zukunft wegfällt, verliert auch die Erwartung zukünftigen persönlichen Nutzens in der Handlungsregulation an Gewicht. Diese veränderte Rationalitätsperspektive erscheint als wesentliche Voraussetzung für eine Reorientierung auf intrinsisch-wertrationale Ziele, wie sie auch im Altersvergleich zu beobachten ist. Psychologische Konzepte wie expanded boundaries, connectedness oder auch self transcendence nehmen auf solche Dezentrierungen Bezug. Die Befunde des SLZ-Projektes haben ein genaueres Licht auf Entwicklungsprozesse und Einstellungsänderungen geworfen, die durch das Bewusstsein des herannahenden Lebensendes aktiviert werden; sie eröffnen damit eine Forschungsperspektive, die auch zu einer genaueren entwicklungspsychologischen Explikation des Weisheitskonstruktes beitragen kann.
Publications
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Jochen Brandtstädter