Brain drain in Ostdeutschland. Ost-West-Migrationen in der ersten Phase des Erwerbsverlaufs und deren Auswirkungen auf die Herkunftsgebiete
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Das Erkenntnisinteresse des abgeschlossenen Projekts richtet sich auf das Ausmaß sowie die Bestimmungsgründe und Folgen selektiver Abwanderung aus Ostdeutschland unter der Fragestellung, ob hierdurch „brain drain“ Effekte initiiert werden. Die erkennbar ausgeprägte Zyklizität sowie die – im Vergleich zu westdeutschen Erfahrungen – hohe Beschleunigung der Prozessverläufe führte dazu, dass zwischen 1991 und 2006 ca. drei Millionen Menschen die neuen Bundesländer in Richtung Westen verließen. Die daraus resultierenden demographischen, sozialen und ökonomischen Konsequenzen werden nicht zuletzt deshalb mit Sorge betrachtet, weil vor allem jüngere und überdurchschnittlich hoch qualifizierte Personengruppen abwandern. Auf der anderen Seite zeigt sich im Profil der altersgruppenspezifischen Wanderungsbeteiligung, dass hochgradige Abwanderung junger Menschen keineswegs allein ein ostdeutsches Phänomen ist, sondern sich mit dieser Mobilität ein Stück demographische Normalität auch in Ostdeutschland einstellt. Die Analyse der wanderungsauslösenden und -steuernden Faktoren zeigt trotz der dominierenden Ausbildungs- und Berufsorientierung, dass der Entscheidungs- und Zielfindungsprozess zur Abwanderung aus Ostdeutschland erheblich vielschichtiger ist, als dass er allein mit rational-ökonomischen Handlungsprinzipien erklärt werden kann. In diesem Zusammenhang kommt Kettenwanderungen und Migrationsnetzwerken ebenso eine hohe Bedeutung zu wie dem Einfluss von Eltern insbesondere bei Ausbildungswanderern. Konzeptionelle Zugänge zur Erklärung der eher ökonomisch-rationalen oder netzwerkorientierten Entscheidungsmuster finden sich in der Verzahnung ökonomischer Migrationstheorien mit handlungstheoretischen Ansätzen. So wird die unter den jüngeren und weniger qualifizierten Fortzüglern häufig multikausal begründete Fortzugsentscheidung ebenso wie die Zielrichtung der Wanderung und die berufliche Integration am Zielort stark durch soziale Netzwerke gesteuert. Demgegenüber lässt sich vor allem für die Wanderungsentscheidung der Hochqualifizierten ein hoher Erklärungswert der Migrationsökonomie feststellen. Die Fortzügler mit tertiärem Bildungsabschluss tendierten zu rationalen, stringenten und beinahe monokausale Entscheidungsmustern. Bei diesem hochmobilen, berufs- und karrierefixierten Typ ist die Migration häufig nicht auf Dauer angelegt, vielmehr findet permanent ein rationalen Kalkülen folgender Abwägungsprozess statt. Aus internationalen Studien ist belegt, dass mit dem Fortzug aus strukturschwachen in prosperierende Regionen häufig ein beruflicher und sozialer Aufstieg verbunden ist. Davon profitieren sowohl die Herkunfts- als auch die Zielregionen, vor allem aber die Wanderungsakteure. So gesehen ist der „Export“ von Lebenserfahrung und Kompetenz nur dann beklagenswert, wenn es sich dabei um einen unwiederbringlichen Verlust handelt. Allein der beachtliche Gegenstrom nach Ostdeutschland spricht jedoch dafür, dass mit der Ost-West-Wanderung auch Elemente eines zirkulären Migrationsgeschehens verbunden sind. Hinzu kommt, dass die Typisierung der Migranten nach ihrer regionalen Herkunft eine unerwartete Vielfalt offenbart: Zwar wurden zwei Drittel von ihnen in Ostdeutschland geboren, aber ein Drittel war zuvor aus Westdeutschland bzw. aus dem Ausland zugewandert. Daraus ergeben sich – unter der Voraussetzung einer ökonomischen Erholung im Zielgebiet – durchaus positive Perspektiven für eine künftige Zu- und Rückwanderung. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Begriffe des „Humankapitals“ und dessen Mobilität (brain drain, brain waste, brain exchange etc.) sorgfältig abgewogen und entsprechend der jeweiligen Bedingungen von Angebot und Nachfrage definiert werden müssen. Aus regionalökonomischer Perspektive ist davon auszugehen, dass in einer Region (wie auch im betrachteten Fallbeispiel Ost14 deutschland) in der Regel meist sich überlagernde und/oder konträre Prozesse stattfinden. Ebenfalls sind die zeitliche Variabilität und die Dynamik von Humankapitalströmen im Wandel konkurrierender Regionen zu berücksichtigen. Problematisch scheint daher vor allen Dingen der negative bzw. positive Tenor der mit einer aktuellen Gewinn- bzw. Verlustbilanzierung verbunden wird. Am Beispiel der Untersuchungsregion Ostdeutschland zeigt sich, dass die Abwanderung, die derzeit einen Humankapitalabfluss und somit einen brain drain verursacht, für die Betroffenen die einzige Alternative zu einem Brachliegen von Humanressourcen (also einem brain waste) im Falle von Arbeitslosigkeit oder Beschäftigung in nichtadäquaten Arbeitsverhältnissen darstellt. Dies spricht bei der Verwendung von Begrifflichkeiten für eine Distanzierung von damit verbundenen Bewertungen im positiven oder negativen Sinn. Ein Prozess, der von einer brain-drain-Situation determiniert wird, sollte daher stets Anlass dazu geben, zu hinterfragen, mit welchen Instrumenten auch für die Herkunftsregion eine optimale Entwicklung erreicht werden kann. Im Zeitalter wissensbasierter Ökonomien wird der regionale Abfluss, Austausch und Rückfluss von Fachkräften und somit Humanressourcen zunehmen, die Relevanz dieser Fragestellung daher weiter steigen. Durch das allgemeine öffentliche Interesse an der Thematik konnte eine gute Außenwirkung des Projektes erzielt werden. Neben der Vorstellung der Fragestellungen und Ergebnisse in wissenschaftlichen Kreisen wurde auch in öffentlichen Medien mehrfach über das Projekt berichtet. Insbesondere die Ausrichtung des interdisziplinären Workshops mit ca. 70 Teilnehmern und elf Referenten aus dem In- und Ausland fand ein angemessenes Medienecho. Mitarbeiter der Arbeitsgruppe werden von regionalen Medien regelmäßig als Gesprächspartner zur Thematik der Abwanderung aus Ostdeutschland angefragt.