Literatur und Leibesübungen - von Winckelmann bis zum Nachmärz. Untersuchungen zu einem abgedunkelten Kapitel Kulturgeschichte
Final Report Abstract
Aus der Perspektive einer kulturwissenschaftlichen Germanistik und mit Fragestellungen der Geschichts-, Politik-, Erziehungs- und Sportwissenschaft hat das Projekt erstmals umfassend die historischen Wechselbeziehungen zwischen zwei wichtigen kulturellen Praktiken der Gegenwart in den Blick genommen - und zwar In jenem Zeitraum, als sie sich parallel zueinander modernisierten und Diskurse, Regel- und Bewertungssysteme herausbildeten, die neben der Orientierung an der griechischen Antike im 18. Jahrhundert auch die Politisierung während der Befreiungskriege und im Vormärz gemeinsam hatten und gemeinsam die Verbürgerlichung, die Nationalisierung und die Institutionalisierung der Körper-Geist-Dualität vorantrieben. Die Kultur- und Machtgeschichte des Körpers erweiternd, wurde ein Forschungsfeld konfiguriert in dem die Termini Bewegung, Habitus und Kinästhesie zwischen den beiden Praktiken vermitteln und körperliche wie geistig-seelische Bewegungen historisch und systematisch einander annähern. Dabei zeigte die Rezeption von Winckelmanns körperlichem Griechenland, wie die Literatur im Zuge ihrer Autonomisierung den ganzen auf den geistig-seelischen Menschen reduzierte und den Leibespädagogen, die der gleichen anthropologischen Idee verpflichtet waren wie sie, einen Platz unter den menschenbildenden Praktiken verweigerte. In ihrer entwicklungsoffenen Modernisierungsphase kam es zwischen Literatur und Leibesübungen zu keiner Allianz zugunsten des ganzen Menschen, sondern zu einer Konkurrenz, die wegen des größeren Einflusses der Literatur zu einer lang anhaltenden kulturellen Inferiorität der Leibesübungen führte und - mit Blick auf die ethischen Fragen der Gegenwart - auch einen »Webfehler« im Text der Kultur nach sich zog. Das heißt freilich nicht dass die von Pindar einst besungenen Leibesübungen seit dem Sturm und Drang »literarisch abgewirtschaftet« hätten. Zwar hat die Literatur die Unvereinbarkeit von künstlerischer, Genialität und körperlichen Fähigkeiten gerade im Untersuchungszeitraum gefestigt doch der damalige »Durst nach Bewegung«, der Bewegung um 1800 in Theorie und Praxis von Literatur wie Leibesübungen zu einer Freiheit und Natürlichkeit umfassenden Leitkategorie machte, führte auch zu einer erheblichen literarischen Reflexion auf leibliche Bewegungsformen. Das betraf einmal den Tanz, dessen intensive Behandlung durch Dichter und Kunsttheoretiker wie durch Leibespädagogen im Rahmen des Themas singulär ist: Die »Königinn« der adligen Habitusbildung hatte als einzige leibliche Bewegungsform auch im System der schönen Künste einen festen Platz und erlaubte so dichtungstheoretische und theaterpraktische Überlegungen, die in der Debatte um Natürlichkeit und Künstlichkeit sprachlicher wie leiblicher Äußerungsformen kulminierten. Mehr noch entzündete sich das literarische Interesse an Bewegungsformen, die als schwach institutionalisierte neue poetische oder soziale Erfahrungs- und Imaginationsräume stifteten und bis dahin inkommensurable Natur- und Bewegungserlebnisse erlaubten: am Gehen (Wandern und Spazieren), Eislauf und Schwimmen. Durch ihre Bewegungsphantasien und -experimente verhalf die Literatur dem Eislauf zur kulturellen Legitimation und betrieb die Transformation von Wandern und Spaziergang In bürgerliche Freizeitpraktiken aktiv mit Sie hat sich an diesen Körperpraktiken aber auch selbst profiliert; Literaturgeschichtliche Innovationen wie Klopstocks Reform der deutschen Metrik oder der Bildungsroman haben aus einem neuen Körper- und Bewegungsgefühl wichtige Impulse bekommen. Maßgebliche Aspekte der Literaturgeschichte, etwa das Naturverständnis vom Sturm und Drang bis zur Romantik, erwiesen sich derart vom Wandel der Gehkultur mit ihrer Freiheits-, Unmittelbarkeits- und Vitalitätssemantik beeinflusst dass man Wandern und Spazieren unter die Ermöglichungsbedingungen einer autonomen Literatur zählen muss. Beim Schwimmen hingegen zeigte sich anhand des Hero-und-Leander-Stoffes, dass die Literarisierungen von Leibesübungen lange überlieferungs- und nicht erfahrungsbasiert sein konnten (Schiller, Hölderlin). Durch die Renaissance des menschlichen Ganzkörperkontakts mit dem Wasser änderte sich der Einsatz des Schwimmmotivs fundamental (Goethe, Grillparzer), und die Empirie beschädigte die Literarizität des Leander-Stoffes, der daraufhin an Bedeutung verlor. Die Impulse, die die Literatur aus einer sich wandelnden Bewegungskultur erhielt ließen sich erst durch die Ausblendung des Körperbezugs für die Profilierung des Literarischen im modernen Sinn nutzen - nicht aus dem Geist der Leibfeindlichkeit sondern aus dem einer anthropologischen Konkurrenz: Als Ermöglichungsbedingung einer autonomen Literatur wurden Wandern, Spazieren und Tanzen vor Einsprüchen der Protagonisten der Leibeskultur geschützt; die neuen kinästhetischen Erfahrungen jedoch blieben als Textbewegungen erhalten, am augenscheinlichsten beim Eislauf Mit der Karriere des Turnens begann ein neues Kapitel in der Wechselbeziehung der beiden Praktiken, denn nun wurden die Leibesübungen, wie zuvor nur in der Antike, Gegenstand gesellschaftlicher Wahrnehmung, Zudem betrieben die Turner anders als die Philanthropen eine eigene Literaturpolitik. Da die Literatur ihren Anspruch auf den ganzen Menschen aufgab und die Antike durch die nationale und militärische Umakzentuierung der Leibesübungen ihre körperkulturelle Leitfunktion einbüßte, verlagerten sich die Wechselbeziehungen vom anthropologisch-ästhetischen Ins politische Feld: Die dort mögliche Allianz, nun zugunsten von Nation und Liberalismus, blieb - v.a aus kinästhetischen Gründen - erneut ungenutzt: Das Turnen widersprach sichtlich den Vorstellungen von schöner, freier, natürlicher Bewegung, die das Bürgertum im 18. Jahrhundert gegen den gekünstelten adligen Habitus aufgebracht hatte (Heine vs. Jahn). Je stärker das Turnwesen aber die Leibesübungen gesellschaftsfähig machte, je mehr büßten Bewegungspraktiken wie Eislauf, Schwimmen und Wandern Ihren literarischen Reiz ein. Zugleich hatte die körperliche Bewegungskultur aber auch ihre Bedrohung für das Proprium des Literarischen verloren, was der literarischen Rezeption des aufkommenden Sports am Ende des 19. Jahrhunderts gute Startbedingungen verschaffte.
Publications
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Die Dichter auf dem Eis. Klopstock, Goethe und der Eislauf. (Institut für Sportwissenschaft, Universität Göttingen, Juni 2004)
Thomas Schmidt
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Die »neue Religion«. Zur Gehkultur der Aufklärung. >Raum als literatur- und kulturwissenschaftliche Kategorie<, Universität Poznan/Polen, März 2004
Thomas Schmidt
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Literatur und Gehkultur. (Neugermanistisches Kolloquium, Universität Göttingen, Juli 2004)
Thomas Schmidt
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Kulturwissenschaftlicher Referent; Sport oder Bewegungskultur? In: Erwägen. Wissen. Ethik. Heft 4/2005 (Diskussionseinheit: >Sport Einheit und Vielfalt seiner Kulturen<), S. 513-515
Thomas Schmidt
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Rezension zu: Charles Sprawson; Schwimmen. Eine Kulturgeschichte. München, Zürich 2004. In: KulturPoetik. Zeitschrift für kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft 5 (2005), S. 281-285
Thomas Schmidt
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Das halbe Griechenland. Antikerezeption in >Weimar< und >Schnepfenthal<. >Antikerezeption um 1800<, Forschungszentrum Gotha für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt, Februar 2006
Thomas Schmidt
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Frühe Lockerungen. Die Leibesübungen zu Zeiten Friedrich Schillers. (DLA Marbach, November 2006)
Thomas Schmidt
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Literaturgeschichte des Schwimmens in der Goethezeit. (Institut für Sportwissenschaft Göttingen, Mai 2006)
Thomas Schmidt
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Der »grobe Bettler« und das »Federgeschmeiß«. Wie der Dichter Heinrich Heine und der Turner Friedrich Ludwig Jahn einander beobachteten. Stadtbibliothek Heilbronn, September 2007
Thomas Schmidt
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Winckelmanns >Gymnastik-Argument<. Winckelmann-Gesellschaft Stendal, Dezember 2007
Thomas Schmidt
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Feindliche Geschwister, Bekannte oder Fremde? Stichworte zur Einführung. >Hat der Fußball eine Literaturgeschichte<, DLA Marbach, Juni 2008
Thomas Schmidt
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Rezension zu: Hans Ulrich Gumbrecht: Lob des Sports. Frankfurt/M. 2005. In: KulturPoetik. Zeitschrift für kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft 8 (2008), S. 120-124
Thomas Schmidt
