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Drogenkonsum in West-Berlin und London in den 1960er und 1970er Jahren: Wandlungen eines sozialen Problems

Fachliche Zuordnung Neuere und Neueste Geschichte (einschl. Europäische Geschichte der Neuzeit und Außereuropäische Geschichte)
Förderung Förderung von 2003 bis 2010
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 5412406
 
Erstellungsjahr 2011

Zusammenfassung der Projektergebnisse

In einer sozial- und kulturhistorischen Vergleichs- und Transferstudie wunde der Drogenkonsum von Jugendlichen in Westberlin und London der 1960/70er Jahre untersucht. Es ging um Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Konsumpraxis und in den Mikronetzwerken des Drogenhandels, in der Presseberichterstattung sowie im Agieren von Politikern, Polizisten und Experten. Der transnational vemetzte Drogen-Underground (1962/64-1969), als das Kennzeichen des Drogenkonsums der 1960er Jahre, war durch drei Merkmale geprägt: durch eine hohe grenzüberschreitende Mobilität der Drogenkonsumenten (1), durch Konsumkritik, die durch kollektiven Konsum ,weicher' Drogen (Cannabisprodukte, LSD) artikuliert wurde (2) sowie durch eine Politics of Play (R. Neville), die in kreativer Konfrontation die Arbeits- und Leistungsgesellschaft in Frage stellte (3). Politische Akteure, Mediziner und auch die Westberliner Presse sahen die staatlich-politische Ordnung durch Drogen weit stärker gefährdet, als dies ihre Gegenüber in London taten. Zudem war der Westberliner Underground durch polizeiliche Maßnahmen intensiver politisch radikalisiert. Der Heroinkonsum der 1970er Jahre wurde mit dem Scene-Konzept (J. Irwin) analysiert und die Heroinszene als Vorreiter einer hoch individualisierten „Gesellschaft von Konsumenten" (Z. Bauman) interpretiert, deren Reize und destruktiven Potenziale sich im ultimativen Konsumgut Heroin zeigten. Denn diese qualitativ kaum kontrolliertaare Ware wurde nicht an die Konsumenten, sondern letztere vwurden an das Heroin gekettet. Zum einen war der Vollzeitjob als Heroinkonsument geprägt vom Streben nach kurzfristigen Bedürfnisbefriedigungen, kulminierend im kurzzeitigen Rauscherlebnis („Flash"). Zum anderen konsumierten Heroinkonsumenten in ihrer Kritik an der Konsumgesellschaft unbegrenzt sich selbst, mit oft tödlichen Konsequenzen. Durch die defizitäre, polizeilich dominierte Westberliner Drogenpolitik lag der Anteil verelendeter Junkies dort weit höher als in London, und auch das dortige Szeneleben war stärker geprägt von Gewalt, Mustern harter und aggressiver Männlichkeit sowie von der Kommunikation über den Tod. Die Studie verweist auf eine wichtige Umbruchphase in Drogenkonsum und Drogenpolitik zwischen dem letzten Drittel der 1970er sowie dem Beginn der 1980er Jahre, angetrieben v.a. durch Veränderungen auf dem transnationalen Heroinmarkt. Vor diesem Hintergrund entstand in Westberlin um 1978 durch das Zusammenwirken von drei Faktoren eine ausdifferenzierte Drogenpolitik: Die Drogentoten nahmen zu (1) und auch die Ordnungsprobleme in Haftanstalten (2), bedingt durch die Inhaftierung zahlreicher Heroinhändler/-konsumenten. Beides wurde von der Presse dramatisiert und führte zu einem Wahrnehmungswandel (3) unter den Akteuren: Politisch-administrative Akteure auf der einen und Drogenkonsumenten sowie ihre Selbsthilfeorganisationen auf der anderen Seite überwanden Kommunikationsblockaden. Zudem wurde Drogenpolitik nun besser finanziert, weniger autoritär und durch Aufgabendelegation gesellschaftsnäher umgesetzt. In London existierte bereits seit 1968 ein effektives Netzwerk aus Drogenkliniken und Selbsthilfeorganisationen. Die wohlfahrtsstaatlich ausgerichtete und kommunikativ unteriegte Konsenskulturin der Londoner Drogenpolitik wurde in den frühen 1980er Jahren massiv durch ein qualitativ und quantitativ neues Drogenproblem in großstädtischen Problemvierteln mit hohem „schwarzen" Bevölkemngsanteil und gewaltgeprägten Sozialbeziehungen herausgefordert. All dies erschütterte die personellen und finanziellen Ressourcen sowie die tragenden Wahrnehmungsmuster und Handlungsstrategien (unter Politikern, Polizisten und Medizinern) zutiefst.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • Drogenkonsum und Jugenddelinquenz in Westdeutschland in den 1960/70er Jahren. Forschungskolloquium Prof. Dr. Jürgen Reulecke, Universität Siegen, 25. Juni 2004
    Klaus Weinhauer
  • Drug Consumption and Youth Delinquency in West-Berlin during the 1960s and 1970s. International Conference on Drugs and Alcohol in History, London (Ontario, Kanada), 13.- 16. Mai 2004
    Klaus Weinhauer
  • The London Drug Scenes in the 1960/70s. 5. European Social Science History Conference, Panel "Drugs, Politics, and Consumption from the 1950s to the 1970s: International Perspectives", Berlin, 24.-27. März 2004
    Klaus Weinhauer
  • Vom Ende der Gewissheit: Jugenddelinquenz und Polizei in bundesdeutschen Großstädten der 1960/70er Jahre. 45. Deutscher Historikertag, Sektion: „Umkämpfte Räume. Delinquente Jugendkulturen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Bundesrepublik, DDR, USA)", Kiel, 14.-17. September 2004
    Klaus Weinhauer
  • Drogenkonsum in der Bundesrepublik und in England in den 1970er Jahren. Tagung „Krise des Regierens in den 1970erJahren?", UniversitätTübingen, 13.-14. Oktober 2005
    Klaus Weinhauer
  • Drogenkonsum in London und Berlin in den 1970er Jahren. Kolloquium zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Universität Bielefeld, 2. Juni 2005
    Klaus Weinhauer
  • Drogenkonsum und Jugendgewalt in bundesdeutschen Großstädten der 1960/70er Jahre. In: Detlef Briesen/Klaus Weinhauer (Hg.), Delinquente Jugendkulturen und umkämpfte Räume in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Internationale Perspektiven (Jahrbuch Jugendforschung, Bd. 5), Wiesbaden 2005, S. 71-90
    Klaus Weinhauer
  • Drogenkulturen in bundesdeutschen Gefängnissen zwischen den 1960er und 1980er Jahren. Tagung „Hinter Gittern", Gedenkstätte Bautzen, 3.-5. November 2005
    Klaus Weinhauer
  • Zwischen Subkultur und Staat: Terrorismus in der Bundesrepublik der 1970er Jahre. Kolloquium der Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Universität Zürich, 9. Juni 2005
    Klaus Weinhauer
  • Der Westberliner "underground". Kneipen, Drogen und Musik. In: rotaprint 25 (Hg.), agit 883. Bewegung, Revolte, Underground in Westberlin 1969-1972, Hamburg/Berlin 2006, S. 73-83
    Klaus Weinhauer
  • Drug Consumption in London and Western Berlin during the 1960/70s: Local and Transnational Perspectives. In: Social History of Alcohol and Drugs. An Interdisciplinary Journal 20 (2006), S. 187-224
    Klaus Weinhauer
  • Drugs In the Media: Press Images of Drug Consumption in London and Berlin during the 1960/70s. 6. European Social Science History Conference, Panel "Drugs in Big Cities from the 1960s to the 1980s'', Amsterdam, 22.-25. März 2006
    Klaus Weinhauer
  • The End of Certainties: Drug Consumption and Youth Delinquency in West Germany of the 1960/70s. In: Axel Schildt/Detlef Siegfried (Hg.), Between Marx and Coca Cola: Youth Cultures in Changing European Societies, 1960-1980, Oxford u.a. 2006, S. 376-397
    Klaus Weinhauer
  • Polizei und Jugendliche in der Geschichte der Bundesrepublik. In: Detlef Briesen/Klaus Weinhauer (Hg.), Jugend, Delinquenz und gesellschaftlicher Wandel. Bundesrepublik Deutschland und USA nach dem Zweiten Weltkrieg, Essen 2007, S. 71-93
    Klaus Weinhauer
  • Drogenkonsum zwischen Medienmacht, Staatsintervention und Selbsthilfe. Westberlin und London im Vergleich. Internationale Tagung „The Alternative Milieu. Unconventional Lifestyles and Left-wing Politics in West Germany and Europe 1968-1983", Kopenhagen, 19.-21. September 2008
    Klaus Weinhauer
  • Drug Consumption in 1960/70s Berlin and London. Police Seminar, Open University Milton Keynes (England), 6. März 2009
    Klaus Weinhauer
  • Drogenkonsum, Drogenpolitik und Strafvollzug in der Bundesrepublik (1960er bis 1980er Jahre). In: Silke Klewin/Herbert Reinke/Gerhard Sälter (Hg.), Hinter Gittern. Zur Geschichte der Inhaftierung zwischen Bestrafung, Besserung und politischem Ausschluss vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Leipzig 2010, S. 281-294
    Klaus Weinhauer
  • Heroin: Vom Hustenmittel zur illegalen Droge (1898-1912). 48. Deutscher Historikertag, Sektion: Geschichten von Menschen und Dingen - Potentiale und Grenzen der Verwendung der Akteur-Netzwerktheorie (ANT) in der Geschichtswissenschaft, Berlin, 28. September - 1. Oktober 2010
    Klaus Weinhauer
  • Heroinszenen in der Bundesrepublik Deutschland und in Großbritannien der siebziger Jahre. Konsumpraktiken zwischen staatlichen, medialen und zivilgesellschaftlichen Einflüssen. In: Sven Reichardt/Detlef Siegfried (Hg.), Das alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa, 1968-1983, Göttingen 2010, S. 244-264
    Klaus Weinhauer
  • Nightlife and Security in Clubs and Discotheques in 1960/70s Western Berlin. 7. European Social Science History Conference, Ghent, 13.-17. April 2010
    Klaus Weinhauer
 
 

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