Nation und Geschlecht. Konstruktionen nationaler Identität in Autobiographien deutscher Lehrerinnen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Im Forschungsprojekt 'Nation und Geschlecht' wurden autobiographische Zeugnisse deutscher Lehrerinnen und Erzieherinnen untersucht, die sich zur Zeit des Kaiserreichs aus beruflichen Gründen zeitweise im europäischen und außereuropäischen Austand aufhielten und die ihre Erfahrungen rückblickend in Zeitungsartikeln, Reiseberichten, Vorträgen, Tagebüchem und Lebenserinnerungen thematisierten. Gemeinsam ist den reisenden jungen Frauen, dass sie im Ausland mit ihnen fremden Kulturen in Kontakt kamen und weit reichende Einblicke in die 'Fremde' gewannen - vor allem in fremdes Alltags- und Familienleben, aber auch in ausländische Erziehungs-, Bildungs- und Kultureinrichtungen. Entsprechend der Erkenntnis, dass in der Konfrontation mit dem 'Fremden' der Blick auf 'Eigenes' und 'Vertrautes' gelenkt wird, zeigte sich einerseits, dass die Auslandsaufenthalte nicht etwa zu einem förderlichen Kulturaustausch, zu einem Abbau von Vorurteilen und stereotypen Fremdeinschätzungen führten, sondem dass der Kontakt mit dem 'Fremden' kulturelle Selbstvergewisserungsprozesse auslöste, patriotische Bewusstseinslagen stärkte und somit eher zu einer Festigung der nationalen Identität reisender Lehrerinnen beitrug. Andererseits eigneten sich die Lehrerinnen im Ausland die fremde Kultur aktiv an - durch Sprach- und Literaturstudien, Schulhospitationen, durch ihre Teilhabe am kulturellen Leben und an geselliger Konversation, durch Reisebeobachtungen, Alltagsstudien etc. Zudem fungierten sie in mehrfacher Hinsicht als Kulturvermittlerinnen - indem sie etwa ausländische Kinder in deutscher Sprache unterrichteten oder pädagogische Ideen aus Deutschland ins Ausland zu transferieren suchten. Die Kulturvermittlung der Lehrerinnen erfolgte auch in Richtung Heimatland: Sie berichteten in Fachzeitschriften über Fortbildungsmöglichkeiten für Mädchen und Frauen im Ausland, über innovative Ansätze im ausländischen Bildungswesen und unterstützten damit die bürgerliche Frauenbewegung in ihren Gleichstellungsforderungen. Ein Ziel der Auslandsstudien war es letztlich, nach der Rückkehr in Deutschland Schülerinnen und Schüler in eine fremde Sprache und Kultur einzuführen. Aus diesen Kontexten heraus ergibt sich die grundlegende Frage, wie sich fremdkulturelle Aneignungs- und Vermittlungsprozesse auf der Folie nationalkultureller Vorstellungen und Prägungen vollziehen. So kann das in der genderorientierten historischen Bildungsforschung angesiedelte Projekt dazu beitragen, die bis in die Gegenwart hineinreichenden, verengten Vorstellungen von in sich geschlossenen 'Nationalkulturen' aufzubrechen, um die Spuren des 'Eigenen' im 'Fremden' und des 'Fremden' im 'Eigenen' erkennen zu lernen.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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In Europa und der Welt unterwegs. Konstruktionen nationaler Identität in Autobiographien deutscher Lehrerinnen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. In: Bea Lundt/Michael Salewski in Zusammenarbeit mit Heiner Timmermann (Hg.): Frauen in Europa. Mythos und Realität. Münster 2005, S. 157-172
Kleinau, Elke
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Als Lehrerin in Deutsch-Südwest. Der koloniale Blick auf das "Fremde" in Berufsbiographien von Lehrerinnen. In: Schlüter, Anne (Hg.): Bildungs- und Karrierewege von Frauen. Wissen - Erfahrungen - biographisches Lernen. Opladen 2006, S. 168-182
Gippert, Wolfgang/Kleinau, Elke
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Ambivalenter Kulturtransfer. Deutsche Lehrerinnen in Paris 1880 bis 1914. In: Historische Mitteilungen. Im Auftrage der Ranke-Gesellschaft hrsg. von Jürgen Elvert und Michael Salewski. Bd. 19/2006, S. 105-133
Gippert, Wolfgang
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Interkultureller Transfer oder Befremdung in der Fremde? Deutsche Lehrerinnen im Viktorianischen England. In: Zeitschrift für Pädagogik 52 (2006) 3, S. 338-349
Gippert, Wolfgang/Kleinau, Elke
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Nation und Geschlecht. In: Andresen, Sabine/Rendtorff, Barbara (Hg.): Geschlechtertypisierungen im Kontext von Familie und Schule (Jahrbuch Frauen- und Geschlechterforschung in der Erziehungswissenschaft 2). Opladen 2006. S. 91-103
Gippert, Wolfgang
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"Ein kerndeutsches, nationalbewußtes, starkes Frauengeschlecht" - Käthe Schirmachers Entwurf einer völkisch-nationalen Mädchenund Frauenbildung. In: Ariadne - Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte, H. 53/54 (2008), S. 52-59
Gippert, Wolfgang
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Das Ausland als Chance und Modell: Frauenbildung im viktorianischen England im Spiegel von Erfahrungsberichten deutscher Lehrerinnen. In: Ders./Götte, Petra/Kleinau, Elke (Hg.): Transkulturalität. Gender- und bildungshistorische Perspektiven. Bielefeld 2008, S. 181-199
Gippert, Wolfgang
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Transkultralität: gender- und bildungshistorische Perspektiven. Zur Einführung in den Band. In: Dies. (Hg.): Transkulturalität. Gender- und bildungshistorische Perspektiven. Bielefeld 2008, S. 9-24
Gippert, Wolfgang/Götte, Petra/Kleinau, Elke
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Transkulturalität und Gender in bildungshistorischer Perspektive. Bericht zur gleichnamigen Tagung am 8./9. Februar 2008 in Köln. In: Erziehungswissenschaft. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft 19 (2008) 37, S. 92f
Gippert, Wolfgang
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Transkulturalität. Gender- und bildungshistorische Perspektiven. Bielefeld 2008
Gippert, Wolfgang/Götte, Petra/Kleinau, Elke
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Vertextete Fremdheit - inszeniertes Selbst. Ansätze zur Erschließung von Selbst- und Fremdkonstruktionen in autobiografischen Schriften deutscher Lehrerinnen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. In: Hoff, Walburga/Kleinau, Elke/Schmid, Pia (Hg.): Gender-Geschichte/n. Ergebnisse bildungshistorischer Frauen- und Geschlechterforschung. Köln/Weimar/Wien 2008, S. 291-310
Gippert, Wolfgang