Reflexive Hilfeplanung in der Jugendhilfe als kommunikativer Aushandlungs- und Entscheidungsprozess
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Ausgangspunkt dieser Untersuchung war die Beobachtung, dass trotz einer Vielzahl an Einschätzungen, Auseinandersetzungen und empirischen Forschungen zur Hilfeplanung nach § 36 SGB VIII sich ihre praktischen Durchführungsbedingen einer systematischen Analyse bislang entzogen. Diese Lücke sollte das vorliegende Forschungsvorhaben schließen. Ziel war es, unter Beibehaltung vergleichbarer Dienstleistungssettings (hier: Heimunterbringung) das Verhandlungssystem der Hilfeplanung systematisch, detailliert und gegenstandsoffen zu rekonstruieren. Im Mittelpunkt der Untersuchung stand dabei die gesprächsanalytische Auswertung von 14 Hilfeplangesprächen im Rahmen von Heimunterbringung zu unterschiedlichen Phasen im Hilfeprozess (Falleinstieg; Fortschreibung; Beendigung). • Auffällig war zunächst der Befund, dass die Durchführung von Hilfeplangesprächen bemerkenswert eigendynamischen Verlaufsmustern folgt. Zwar wird in jedem Hilfeplangespräch eine grobe Ablaufstruktur sichtbar (Gesprächseinstieg/ Sachstandserhebung/Erörterung/Entscheidung/Gesprächsausstieg), diese erweist sich jedoch in ihrer praktischen Durchführung als hoch kontingent. Innerhalb ungleicher Ablaufstrukturen haben sich indes regelhaft wiederkehrender Aktivitäten herausdestilliert, die sich primär auf die institutionelle Bearbeitung von Fällen bezogen. • Nach Maßgabe der vorliegenden Analysen werden die ,Fälle' im Hilfeplangespräch nicht lediglich eingeschätzt und klassifiziert, vielmehr sind sie als solche komplexen Herstellungsbedingungen unterworfen. Dabei hat sich das Muster der Klientifizierung als ein dehnbares Instrument der Konstitution von Identitäten erwiesen, das sich nach Maßgabe institutioneller Zwecke strategisch flexibel einsetzen lässt. • Des Weiteren verlaufen Entscheidungsprozesse im Hilfeplangespräch in hohem Maße intransparent. Dadurch kann die Wahrscheinlichkeit manifester Konfliktsituationen schon im Vorfeld eingeschränkt werden. In der direkten Interaktion mit Klienten ist Vagheit und Konfliktmeidung ein bevorzugtes Muster professioneller Dominanz. • In eine vergleichbare Richtung deuten Beteiligungsmuster im Hilfeplangespräch: Teilhabe am Gespräch wird aktiv gefordert und unterstützt, mit zunehmender Nähe zum Entscheidungsvorgang jedoch unterbunden. • Fachkräfte sind bei der Durchführung von Hilfeplangesprächen offenbar einer Vielzahl unvereinbaren Erwartungen ausgesetzt, die sie nicht auflösen, sondern bestenfalls nur so bearbeiten können, dass es deswegen nicht zu Gesprächskrisen kommt. Offen bleibt, wie dissoziative Bearbeitungsmuster im Hilfeplangespräch bei gleich bleibender oder zunehmender inhaltlicher Überfrachtung ausgesöhnt werden können. Eine widerspruchsfreie Hilfeplanpraxis ist nach Maßgabe der vorliegenden Analysen derzeit noch nicht in Sicht. Vieles an den Ergebnissen deutet auf den Sachverhalt hin, dass die festgestellten Aporien institutioneller Praxis nicht nur auf Hilfeplangespräche eingeschränkt sind. Wenn immer Fachkräfte in Kontakt mit Klienten treten, werden zwangsläufig auch die entsprechenden Identitäten, Beteiligungsmöglichkeiten und Entscheidungen produziert. Eine detaillierte, systematische und gegenstandsoffene Analyse institutioneller Praxis könnte somit zur Entschlüsselung und Absicherung paradigmatischer Rationalitätsmuster in den verschiedenen Anwendungsfeldern Sozialer Arbeit führen.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- (2004): Hilfeplanung. Sozialwissenschaftliche Literaturrundschau 27/48: 73- 93
Heinz Messmer
- (2007): Gesellschaft als Kommunikation - Kommunikation als Gesellschaft? Plädoyer für die Berücksichtigung ethnomethodologischer Konversationsanalyse in Niklas Luhmanns Gesellschaftstheorie. Soziale Systeme 13: 480-490
Heinz Messmer
- (2007); Die soziale Produktion des Klienten - Hilfeplangespräche in der Kinder- und Jugendhilfe. In: Wolfgang Ludwig-Mayerhofer/Olaf Bewend/Ariadne Sondermann (Hrsg.): Aushandeln, Verstehen, Klassifizieren: Akteure in der Sozialverwaltung und ihre Klienten. Opladen/ Farmington Hills: Budrich Verlag, S. 41-73
Heinz Messmer/Sarah Hitzler
- (2008): Gespräche als Forschungsgegenstand der Sozialen Arbeit. Zeitschrift für Pädagogik 54: 244-260
Sarah Hitzler/Heinz Messmer
- (2008): Practice-based evidence - Social work viewed from an interaction analysis perspective. In: Inge Bryderup (ed.), Evidence Based and Knowledge Based Social Work. Research Methods and Approaches in Social Work Research. Aarhus: Aarhus University Press, pp. 33-52
Heinz Messmer/Sarah Hitzler
- (2008): Profession auf dem Prüfstand. In: Arbeitsgruppe 8 (Hrsg.), Soziale Arbeit in Gesellschaft - Festschrift für Hans-Uwe Otto. Wiesbaden: VS Verlag, S. 177-186
Heinz Messmer
- (2008): „Die Hilfe wird beendet werden hier" - Prozesse der Deklientifizierung im Hilfeplangespräch aus gesprächsanalytischer Sicht. Neue Praxis 38: 166-187
Heinz Messmer/Sarah Hitzler