Werte und Wertewandel im 20. Jahrhundert: Familiale und familiäre Werte in Deutschland
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Dieses Projekt korreliert die diskursiv verhandelten Familienwerte mit den Praktiken des Familienlebens und den institutionellen Rahmenbedingungen und untersucht, wie in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts gesellschaftlich-kulturelle Veränderungsprozesse abliefen. Das Forschungsvorhaben versteht sich dabei als Beitrag zur Gesellschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts und kombiniert unterschiedliche Zugänge der Politik-, Sozial-, Wirtschafts-, Kultur- und Geschlechtergeschichte sowie der Familiensoziologie. Dabei verfolgt es eine doppelte Zielrichtung: Es sollen sowohl die langen Linien der Veränderungen als auch der Einfluss bestimmter historischer Konstellationen ermittelt werden. Konkret wird dabei gefragt, wie historische Akteure in unterschiedlichen Zeitabschnitten „Familie“ definierten sowie wann und wie sich ihr Verständnis von „der Familie“ wandelte. Zugleich wird untersucht, wie sich die äußere Zusammensetzung von Familien, ihre Sozialstruktur und das familiäre Zusammenleben sowie die Geschlechterrollenveränderten. Drittens wird analysiert, in welches institutionelle Setting die Debatten um Familie und das Familienleben eingebettet waren. Über die Austauschbeziehung zwischen ihnen lässt sich bestimmen, welcher der drei Faktoren die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse initiierte. Insbesondere der Einfluss des politischen Systems wie auch die Grenzen der Veränderungen können so in historisch-diachroner Perspektive untersucht werden. Damit geht das Projekt vor allem der Frage nach den Kontinuitäten und Brüchen über die politischen Systeme und Zäsuren in der Geschichte des 20. Jahrhunderts nach. Insofern stehen Transformationsprozesse, Interdependenzbeziehungen und sich beschleunigende und verlangsamende Wandlungsprozesse sowie die Kausalitätsbeziehungen im Mittelpunkt der Analyse. In zahlreichen Konstellationen firmiertedie soziale Praxis bestimmter gesellschaftlicher Gruppen als Auslöser und Motor für sozialen Wandel. Diese Veränderung wurde dabei gesamtgesellschaftlich verhandelt. Mit der räumlichen Trennung von Wohnort und Arbeitsstätte im ausgehenden 19. Jahrhundert entstanden die beiden „modernen“ Familienformen der bürgerlichen und der proletarischen Familie. In den darauf folgenden Debatten, standen sich Wilhelm Heinrich Riehls patriarchalisches christlich-bürgerliches Familienleitbild und Karl Marx’, Friedrich Engels’ und August Bebels emanzipatorisches Familienmodell gegenüber. In den öffentlichen Aushandlungsprozessen blieben zunächst Ehe und Familie aufeinander bezogen. Selbst als in den 1920er Jahren alternative Familienmodelle wie die „Kameradschaftsehe“ zur Diskussion standen, bestand die symbiotische Beziehung von Familie und Ehe fort. Erst in den 1970er Jahren brach diese Einheit auf, als zunächst Alleinerziehende und später partiell nichteheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern ebenfalls als Familien galten. Während aus dieser Perspektive die 1970er Jahre eine einschneidende Zäsur markieren, muss diese Interpretation gleichwohl relativiert werden. Während in der öffentlichen und politischen Debatte der 1970er und 1980er Jahre unterschiedliche Familienformen und Partnerschaft als neues Geschlechterrollenmodell diskutiert wurden, zeigte eine detaillierte Analyse der sozialen Praktiken auf, dass lediglich ein geringer Prozentsatz diese Ideale im Familienalltag umsetzte. Zudem bestätigte die zweite Förderungsphase einen ersten Befund: In nicht-pluralistischen autoritären Regimen, wie dem Dritten Reich und der DDR, änderten sich vorrangig der Diskurs über Werte sowie die institutionellen Rahmenbedingungen. Die soziale Praxis folgte entweder zeitlich versetzt, oder aber zwischen sozialer Praxis auf der einen und oktroyierten institutionellen Rahmungen bzw. diskursiv verhandelten Wertsetzungen auf der anderen Seite blieb eine Diskrepanz bestehen. Demgegenüber wandelten sich in freien, demokratischen Gesellschaften, wie der Weimarer Republik und der Bundesrepublik, zunächst die sozialen Praktiken sowie partiell auch die Wertediskurse gesellschaftlicher Teilgruppen, und ggf. folgten die institutionellen Rahmenbedingungen. Zum Beispiel stieg in den frühen 1920er und in den 1960er Jahren die Zahl der Ehescheidungen an und initiierte eine Debatte über die zukünftige Regelung des Scheidungsrechts. Während die soziale Praxis eine Debatte um Familienwerte auslöste, erfolgte in den 1920er Jahren jedoch keine Änderung des Scheidungsrechts. Erst 1976/77 wurde in Westdeutschland das Scheidungsrecht reformiert, wohingegen in der DDR bereits 1955 bzw. 1965 ein neues Scheidungsrecht politisch gesetzt worden war.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
-
Vom Nutzen der Sozialwissenschaften für die Zeitgeschichte. Werte und Wertewandel als Gegenstand historischer Forschung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 60.2 (2012), 293–304
Dietz, Bernhard/Christopher Neumaier
-
Von der bürgerlichen Kernfamilie zur Pluralität familialer Lebensformen? Zum Wandel der Familienwerte in Westdeutschland in den 1960er und 1970er Jahren, in: Frank Bösch/Martin Sabrow (Hg.), ZeitRäume. Potsdamer Almanach des Zentrums für Zeithistorische Forschung 2012/2013, Göttingen 2013, 133–144
Neumaier, Christopher
-
Gab es den Wertewandel? Neue Forschungen zum gesellschaftlich-kulturellen Wandel seit den 1960er Jahren, München 2014
Dietz, Bernhard Dietz/Christopher Neumaier/Andreas Rödder
-
Ringen um Familienwerte. Die Reform des Ehescheidungsrechts in den 1960er/70er Jahren, in: Bernhard Dietz/Christopher Neumaier/Andreas Rödder (Hg.): Gab es den Wertewandel? Neue Forschungen zum gesellschaftlich-kulturellen Wandel seit den 1960er Jahren, München 2014,201–225
Neumaier, Christopher
-
Der Niedergang der christlichen Familien? Das Wechselspiel zwischen zeit-genössischen Wahrnehmungen und Praktiken der Lebensführung, in: Claudia Lepp/Harry Oelke/Detlef Pollack (Hg.), Religion und Lebensführung im Umbruch der langen 1960er Jahre, Göttingen 2016, 213–236
Neumaier, Christopher