Statistische Diskriminierung als Rechtsproblem
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Statistische Diskriminierung ist verfassungsrechtlich rechtfertigungsbedürftig. Die strikten Diskriminierungsverbote des Art. 3 III GG sind allerdings in den allermeisten Konstellationen statistischer Diskriminierung nicht unmittelbar anwendbar, so dass das verfassungsrechtlich gebotene Maß an Einzelfallgerechtigkeit im Wege der Abwägung gewonnen werden muss. Normativer Ausgangspunkt ist dabei das Gleichheitsmaß des allgemeinen Gleichheitsrechts (Art. 3 I GG). Es hat sich gezeigt, dass statistische Fehlannahmen spezifische Negativeffekte hervorrufen, deren gemeinsamer Nenner darin besteht, dass statistisch motivierte Entscheidungen dem Einzelfall nicht gerecht werden. Problematisch sind daran die Benachteiligung an sich, die Personalitätseffekte und - infolge der Benachteiligung - die Vorenthaltung eines Guts im weitesten Sinne. Wählt man die Gleichheitsgrundrechte als Ausgangspunkt der verfassungsrechtlichen Beurteilung statistischer Diskriminierung, lassen sich diese Effekte nicht abschließend verfassungsrechtlich würdigen. Nur das Problem der Benachteiligung an sich lässt sich in der Sache am Maßstab des Art. 3 I GG beurteilen, weil dieser Gleichbehandlung gerade auch wegen ihres intrinsischen Werts garantiert. Zwar bestehen Vorbehalte dagegen, die Privatrechtsverhältnisse in diese Garantie einzubeziehen. Es hat sich jedoch gezeigt, dass diese Vorbehalte präferenzbedingter, nicht aber statistischer Diskriminierung gelten. Für die Bewertung der Personalitätseffekte und der Entbehrungen aufgrund diskriminierungsbedingter Vorenthaltung eines Guts, liefert Art. 3 GG hingegen keinen inhaltlichen Maßstab. Die Personalitätseffekte sind am Recht auf Selbstdarstellung zu messen, das aus dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit hergeleitet wird. Insoweit spricht nicht bloß nichts gegen die Einbeziehung von Privatrechtsverhältnissen, sondern die Besonderheiten des Rechts auf Selbstdarstellung sprechen umgekehrt für deren Erfassung. Die als Diskriminierungsfolge eintretenden Entbehrungen an Freiheit oder materiellen Gütern sind an den einschlägigen Freiheitsrechten zu messen, die ebenfalls in die Privatrechtsverhältnisse hineinwirken und im Geschlechterverhältnis noch durch Art. 3 II 2 GG verstärkt werden. Im Ergebnis kann die Intensität der Rechtsbeeinträchtigung durch statistische Diskriminierung nicht einheitlich beurteilt werden, sondern hängt von den konkreten Umständen ab. Insbesondere die Personalitätseffekte statistischer Diskriminierung sind in hohem Maße bereichs- und merkmalsabhängig. Im AGG hat sich das Erfordernis einer Abstufung durchaus niedergeschlagen. So gilt für Beschäftigungsverhältnisse grundsätzlich nur die (im Vergleich zu § 20 I AGG) enge Ausnahmevorschrift des § 8 AGG. Dies trägt der besonderen Bedeutung des Zugangs zu Beschäftigung Rechnung. Die Ausnahmen vom beschäftigungsbezogenen Benachteiligungsverbot sind jedoch in § 10 AGG für das Merkmal Alter großzügiger bemessen als in § 8 AGG. Dass es für die übrigen Merkmale bei der restriktiven Ausnahmeregelung des § 8 AGG bleibt, passt zu dem oben gewonnenen Befund, dass insbesondere die negativen Personalitätseffekte einer statistischen Diskriminierung bei diesen Merkmalen tendenziell höher sind als beim Merkmal Alter. In der praktischen Anwendung der verfassungsrechtlichen Vorgaben dürften vor allem die prozeduralen Anforderungen an die Prognoserichtigkeit eine Rolle spielen. Wie hoch diese sind, hängt wiederum von den Umständen des konkreten Falls ab. Je stärker statistische Diskriminierung die Grundrechte der Betroffenen berührt, umso höhere Anforderungen sind an die Prognoserichtigkeit zu stellen. Jedenfalls wird man der bloßen Behauptung statistischer Zusammenhänge künftig weniger Beachtung schenken als dies in der Vergangenheit der Fall war. In § 20 II AGG hat sich dies für die Beurteilung statistischer Diskriminierung in zivilrechtlichen Schuldverhältnissen, die eine privatrechtliche Versicherung zum Gegenstand haben, bereits niedergeschlagen. § 20 II AGG bietet ein gutes Beispiel dafür, wie die Anforderungen an die Prognoserichtigkeit merkmalsspezifisch abgestuft werden können. Wo der Gesetzgeber solche Abstufungen nicht vorgibt, ist es Aufgabe der Rechtsanwendung, den konkreten Umständen angemessene Anforderungen zu bestimmen.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Das Verbot der Altersdiskriminierung als allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts - der Beginn eines umfassenden europäischen Antidiskriminierungsrechts?, NVwZ 2006, S. 538 - 541
Tobias Richter/Ssoufian Bouchouat
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Reichweite und Grenzen des Art. 13 EGV - unmittelbar anwendbares Diskriminierungsverbot oder lediglich Kompetenznorm?, JURA 2006,S. 651 - 655
Ssoufian Bouchouaf/Tobias Richter
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Anmerkung zu EuGH, Urteil v. 27.6.2006 - Rs. C-540/03, Europ. Parlament ./. Rat der EU, JZ 2007, S. 43-45
Gabriele Britz/Ssoufian Bouchouaf/Tobias Richter
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Freie Entfaltung durch Selbstdarstellung - Eine Rekonstruktion des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 I GG, Tübingen 2007
Gabriele Britz
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Einzelfallgerechtigkeit versus Generalisierung - Verfassungsrechtliche Grenzen statistischer Diskriminierung, Tübingen 2008
Gabriele Britz