Interkulturelle Vermittlung. Zur Bedeutung und Wirkung von Mori Ôgai im Prozeß der kulturellen Modernisierung Japans
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Am Beispiel des Mediziners, Schriftstellers und Übersetzers Mori Ogai (1862-1922), der bei der kulturellen Modernisierung Japans eine herausragende Rolle gespielt hat, werden die Vorrausetzungen, die Mittel und die spezifischen Wirkungen der interkulturellen Vermittlungsleistung derartiger exzeptioneller Persönlichkeiten untersucht. Die allgemeinste Leithypothese der Untersuchungen besagt, dass die Perzeption, die Konfrontation und die - wie immer geartete - Vermittlung heterogener Kulturwelten regelmäßig von einzelnen, für diese Aufgabe besonders disponierten imd befähigten Menschen initiiert, in eine bestimmte Richtung gelenkt und, oft auf lange Dauer, geformt wird. Der Forschungsertrag liegt zunächst darin, dass die interkulturelle Wahmehmungs-, Vermittlungs- und Übersetzungsleistung Mori Ogais in ihrer Eigentümlichkeit imd ihrer besonderen Wirksamkeit - im ganzen und im einzelnen - beschrieben und, im Rahmen des Möglichen, erklärt wird. Ausführlicher und eingehender als vorweg beabsichtigt werden aber auch die ideellen, kommunikativen und sozialen Zusammenhänge geklärt, welche die Aus- und Umbildung des eigentümlichen Ogaischen „Okulars" und die Bedingungen seiner Verbreitung und Wirkung ermöglicht und beeinflusst haben. Im Zuge der Untersuchungen ergaben sich Einsichten, die zwar nicht zu einer Revision, wohl aber zu einer Präzisierung der theoretischen Annahmen nötigten. Danach realisiert sich eine interkulturelle Vermittlung dieser Art kaum über die Entwicklung und lehrhafte Verbreitung von Ideen und gedanklichen Synthesen. Sie muss vielmehr von ungewöhnlich aufnahmefähigen und kreativen Menschen gelebt, verkörpert und in originären geistigen (i.d.R. literarischen) Schöpfungen eindrucksvoll vor Augen geführt werden. Nicht eine erdachte Synthese, sondem eine „stabilisierte Spannung" von kulturell Eigenem und Fremdem, Universellem und Partikularem prägte Leben, Werk und Wirkung Mori Ogais, der dabei - ausdrücklich - von der romantischen Vorstellung einer in sich widersprüchlichen Moderne bestimmt war. Dem entspricht es, dass er durch den eigentümlichen Stil seines Auftretens und Sprechens, vor allem - und langfristig allein - aber durch seine dichterischen Schöpfungen (einschließlich der Reisebeschreibungen und auch der Übersetzungen), nicht durch Lehrwerke oder (kultur-) politische Programme so außergewöhnlich einflussreich wurde. Die Texte, durch die er seine eigentümliche Sich- und Deutungsweise zum Ausdruck brachte und vermittelte, waren Selbst-Zeugnisse im engeren oder weiteren Sinne. In den materialen Untersuchungen wird gezeigt, dass und wie - nicht dennoch, sondern eben deshalb - diese starke kulturelle und gesellschaftliche Breiten- und Tiefenwirkung von ihnen ausgehen konnte. Die Singularität der Rolle und Wirksamkeit Ogais äußerte sich nicht in der Erfindung und Durchsetzung einer grundstürzend neuen Wert- und Lebensordnung. Dem korrespondiert, dass sie nicht den Charakter charismatischer Führerschaft besaß. Mori Ogai verarbeitete und gestaltete vielmehr einen tief reichenden kulturellen und gesellschaftlichen Umbruch auf seine Weise, in seiner Person und in seinem Werk, und er tat dies stellvertretend für viele, die derselben Herausforderung ausgesetzt waren und durch sein Beispiel und seine Vorgaben auf die eigene Bahn gebracht wurden. In der empirischen Erhellung dieses kommunikativen und sozialen Wirkungszusammenhangs sehen wir einen gewiss vorläufigen und in vieler Hinsicht begrenzten, aber doch nicht gering zu schätzenden Beitrag zu einer genuin soziologischen Analyse des Singulären, und zwar gerade im Blick auf umfassende Prozesse kulturellen und inter-kulturellen Wandels.
