SFB 644: Transformationen der Antike
Sozial- und Verhaltenswissenschaften
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Der Berliner Sonderforschungsbereich 644 ‚Transformationen der Antike‘ erforschte Formen der Antikeaneignung im nachantiken Europa. Er entwickelte dabei ein gleichnamiges Analysekonzept, eine Typologie: diese ermöglicht einem breiten Spektrum von Geisteswissenschaften die subtile Diagnose von Aneignungsprozessen antiker Objekte, Ideen, Konzepte und Phänomene nach dem Grad ihrer Inklusion, Exklusion oder Rekombination. Das Konzept erwies sich darüber hinaus als probates Modell der Analyse kulturellen – diachronen, synchronen, interkulturellen – Wandels überhaupt. Beteiligt waren Forscherinnen und Forscher aus fünfzehn geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Prämissen: Die Antike war zweifellos, in Anziehung und Abstoßung, die Leitkultur der nachantiken Gesellschaften Europas, voran ihrer Wissenschaften und Künste. ‚Antike‘ stand aber niemals fest, noch war sie je ursprünglich oder feststellbar. Sie war stets, oft genug latent, dynamisches Potenzial, immer bereits vermittelt, wurde sie in den Epochen der europäischen Geschichte bis in die Gegenwart stets verändert, angeeignet und neu gefunden wie erfunden. Derartige Aneignungen auf allen kulturellen Ebenen nennen wir „Transformationen“. Die einzelnen Teilaneignungsprozesse sind nicht zählbar, sie bilden nur bedingt rekonstruierbare langwellige Transformationsketten; man denke etwa an einen komplexen Text wie Vergils ‚Aeneis‘ und seine Aneignungsweisen in der französischen und mittelhochdeutschen Epik, an die Aneignung und Transzendierung antiker Hydraulik in der Renaissance, an die museal neukontextualisierten Präsentationen antiker Statuen oder die (Neu-)Konstruktion des Gottes Dionysos oder des gegenklassischen Babylon als Selbstdeutungsimaginationen der Moderne. Transformationen generieren Dynamiken kulturellen Wandels, die nicht auf die einseitige Aneignung durch eine Aufnahmekultur, also auf bloße Rezeption, reduziert werden können. Das Entscheidende ist eine grundsätzliche Relationalität, Reziprozität und Wechselwirkung zwischen antiker Referenz- und nachantiker Aufnahmekultur. Im triadischen Prozess der selektiven Aneignung verändert sich im gemeinsamen Transformationshorizont der antike Referenzbereich ebenso wie sich die beteiligte Aufnahmekultur verändert, ja sich oft genug ‚antikisch‘ neu konstituiert (Kulturkonstruktion). Diese, in der Regel asymmetrische, Wechselwirkung ist der innovative Kern des Konzepts und wird denn auch folgerichtig mit dem neu geprägten Zentralbegriff der ‚Allelopoiese‘ erfasst. Der SFB versteht Transformationen mithin als Konstruktionsprozesse, an denen die beiden Faktoren einander wechselseitig konstituieren und konturieren. Die Analyse interessiert sich somit nicht, oder allenfalls sekundär, für die ‚Richtigkeit‘ und tatsächliche Adäquatheit der verhandelten Antikebilder. Es interessiert, was mit und aus Antike gemacht wurde, mit welchen Motiven und in welchen kulturellen Kontexten dies geschah. ‚Die Antike‘ ist also zugleich Gegenstand wie Effekt dieser Transformationen. Sich selbst haben die Transformationsforscher die Rolle des distanzierten wissenschaftlichen Beobachters zugewiesen. Er ist es, der entscheidet, wie ein Transformationstyp definiert wird. Im Begriff des Beobachters verbirgt sich das Bewusstsein des wissenschaftstheoretischen Problems, dass auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit Transformationen Teil von deren Kette ist. „Mitten in sich selbst findet die Transformationstheorie das wieder, zu dessen Analyse sie konstruiert wurde.“ (Böhme). Der SFB betrachtet es als eine seiner bleibenden Hauptleistungen, ein operationables Konzept, ein ‚Organon‘ entwickelt zu haben und der Forschung anbieten zu können, mit dem sich nun in der Praxis arbeiten lässt. Es versetzt mit seinem fein justierten Instrumentarium von 3 Modi und vierzehn Typen der Transformation: von Appropriation bis Übersetzung in die Lage, allelopoietische Aneignungsprozesse von Antikem nicht bloß pauschal als ‚Transformation‘ zu bezeichnen, sondern wesentlich nuancierter diagnostizieren zu können, was hier eigentlich vor sich geht. In seiner letzten Förderphase, gipfelnd in seiner Abschlusstagung ‚Antike ohne Ende‘ vom 2. bis 4. Juni 2016, erweiterte der SFB sein Feld und erprobte mit seinen internationalen Gästen die Anwendbarkeit seines Transformationskonzepts a) auf außereuropäische ‚Antiken‘, etwa in China und Altamerika, sowie b) auf (inter-)kulturelle Wandlungsprozesse, Transfers etc. überhaupt. Der Berliner Sonderforschungsbereich vereinte 15 sozial- und geisteswissenschaftliche Fächer mit insgesamt 27 Teilprojekten und rund 140 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Die insgesamt 33 beteiligten Projektleiter kamen aus sechs Fakultäten und Fachbereichen der Humboldt-Universität zu Berlin und der Freien Universität Berlin sowie vom Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte und der Antikensammlung der Staatlichen Museen zu Berlin. Bis Ende 2018 wird der SFB mindestens ca. 80 Bände (Monographien, Sammel- und Tagungsbände) publiziert haben. Die singulär günstigen Forschungsbedingungen am Standort Berlin, seine Universitäten, Museen, Bibliotheken und sonstigen Forschungseinrichtungen haben das Unternehmen und seine Entwicklung von Anfang an glücklich befördert. Das Transformationskonzept wird heute in Deutschland wie im Ausland vielerorts akzeptiert und angewendet. Insofern hat der SFB seine Mission erfüllt.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
-
Neuplatonismus und Ästhetik. Zur Transformationsgeschichte des Schönen. Berlin/ New York, 2007
Lobsien, Verena; Claudia Olk
-
Übersetzung und Transformation. Berlin/ New York, 2007
Böhme, Hartmut; Christof Rapp; Wolfgang Rösler
-
Dionysos - Verwandlung und Ekstase. Berlin, 2008
Schlesier, Renate; Agnes Schwarzmaier
-
Manfred Fuhrmann als Vermittler der Antike. Ein Beitrag zu Theorie und Praxis des Übersetzens. Berlin/ New York 2008
Mindt, Nina
-
Wissensästhetik. Wissen über die Antike in ästhetischer Vermittlung. Berlin/ New York, 200
Osterkamp, Ernst (Hg.)
-
Übersetzung antiker Literatur. Funktionen und Konzeptionen im 19. und 20. Jahrhundert. Berlin/ New York, 2008
Harbsmeier, Martin S.; Josefine Kitzbichler; Katja Lubitz; Nina Mindt (Hg.)
-
Die modernen Väter der Antike. Die Entwicklung der Altertumswissenschaften an Akademie und Universität im Berlin des 19. Jahrhunderts. Berlin/ New York, 2009
Baertschi, Annette M.; Colin Guthrie King (Hg.)
-
Medien und Sprachen humanistischer Geschichtsschreibung. Berlin/ New York, 2009
Helmrath, Johannes; Albert Schirrmeister; Stefan Schlelein (Hg.)
-
Askese und Identität in Spätantike, Mittelalter und Früher Neuzeit Berlin/ New York, 2010
Röcke, Werner, Julia Weitbrecht (Hg.)
-
Chronisten, Räte, Professoren. Zum Einfluß des italienischen Humanismus in Kastilien am Vorabend der spanischen Hegemonie (ca. 1450 bis 1527). Berlin/ Münster, 2010
Schlelein, Stefan
-
Das Originale der Kopie. Kopien als Produkte und Medien der Transformation von Antike. Berlin/ New York, 2010
Bartsch, Tatjana; Marcus Becker; Horst Bredekamp; Charlotte Schreiter (Hg.)
-
Galileo Engineer. Dordrecht/ Berlin, 2010
Valleriani, Matteo
-
Transformationen antiker Wissenschaften. Berlin/ New York, 2010
Toepfer, Georg; Hartmut Böhme (Hg.)
-
Transparency and Dissimulation. Configurations of Neoplatonism in Early Modern English Literature. Berlin/ New York, 2010
Lobsien, Verena
-
A Different God? Dionysos and Ancient Polytheism. Berlin/ Boston, 2011
Schlesier, Renate (Hg.)
-
Aus der Welt. Reise und Heiligung in Legenden und Jenseitsreisen der Spätantike und des Mittelalters. Heidelberg, 2011
Weitbrecht, Julia
-
Freud und die Antike. Göttingen, 2011
Böhme, Hartmut; Claudia Benthien; Inge Stephan (Hg.)
-
Imagination und Evidenz. Transformationen der Antike im ästhetischen Historismus Berlin/ New York, 2011
Osterkamp, Ernst; Thorsten Valk (Hg.)
-
Klassische Antike in den Berliner Museen 1797-1930. Exemplar für Kunst, Kommerz, Wissenschaft und Weltgeschichtsbild. Frankfurt a.M. u.a., Wien, 2011
Weitmann, Pascal
-
Ludi Naturae. Spiele der Natur in Kunst und Wissenschaft. Paderborn/ München, 2011
Adamowsky, Natascha; Hartmut Böhme, Robert Felfe (Hg.)
-
Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels. Paderborn/ München, 2011
Böhme, Hartmut; Lutz Bergemann; Martin Dönike; Albert Schirrmeister; Georg Toepfer; Marco Walter; Julia Weitbrecht
-
Friendship, Love, and Letters. Ideals and Practices of Seraphic Friendship in Seventeenth-Century England. Heidelberg, 2012
Wilde, Cornelia
-
Imitatio als Transformation. Theorie und Praxis der Antikenachahmung in der frühen Neuzeit Petersberg, 2012
Rombach, Ursula; Peter Seiler (Hg.)
-
Ralph Cudworth - System aus Transformation. Zur Naturphilosophie der Cambridge Platonists und ihrer Methode. Berlin/ New York, 2012
Bergemann, Lutz
-
Antikes erzählen. Narrative Transformationen von Antike in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin/ New York, 2013
Heinze, Anna; Albert Schirrmeister; Julia Weitbrecht
-
Ergänzungsprozesse. Transformation antiker Skulptur durch Restauration. Berlin/ New York, 2013
Kansteiner, Sascha
-
Historiographie des Humanismus. Literarische Verfahren, soziale Praxis, geschichtliche Räume Berlin/ New York, 2013
Helmrath, Johannes; Albert Schirrmeister; Stefan Schlelein (Hg.)
-
Künstler-Signaturen von der Antike bis zur Gegenwart. Petersberg, 2013
Hegener, Nicole
-
„Aufzeichnungen eines Vielfachen“. Zu Friedrich Nietzsches Poetologie des Selbst. Bielefeld, 2013
Sanchiño Martínez, Roberto
-
Antike um jeden Preis. Gipsabgüsse und Kopien antiker Plastik am Ende des 18. Jahrhunderts. Berlin/ New York, 2014
Schreiter, Charlotte
-
Das Geschlecht der Antike. Zur Interdependenz von Antike-und Geschlechterkonstruktionen von 1700 bis zur Gegenwart Paderborn/ München, 2014
Heinze, Anna; Friederike Krippner (Hg.)
-
Grenzen der Antike. Die Produktivität von Grenzen in Transformationsprozessen. Berlin/ Boston, 2014
Heinze, Anna; Sebastian Möckel; Werner Röcke (Hg.)
-
Imagination, Transformation und die Entstehung des Neuen. Berlin/ New York, 2014
Brüllman, Philipp; Ursula Rombach; Cornelia Wilde (Hg.)
-
Krisenimperialität. Romreferenz im US-amerikanischen Empire-Diskurs. Frankfurt a.M., 2014
Huhnholz, Sebastian
-
Poetische Vergegenwärtigung, historische Distanz. Johann Gustav Droysens Aristophanes-Übersetzung (1835/38) Berlin/ New York 2014
Kitzbichler, Josefine
-
Alles nur Kulisse?! Filmräume aus der Traumfabrik Babelsberg. Weimar, 2015
Dorgerloh, Annette; Marcus Becker
-
Contingentia. Transformationen des Zufalls - Zufälle der Transformation Berlin/ New York, 2015
Stephan, Ulrike C.A., Hartmut Böhme; Werner Röcke (Hg.)
-
Grab und Memoria im frühen Landschaftsgarten. Paderborn/ München, 2015
Dorgerloh, Annette; Michael Niedermeier; Marcus Becker (Hg.)
-
Greater than Rome. Neubestimmungen britischer Impe-rialität 1870-1914 Frankfurt a.M., 2015
Hausteiner, Eva Marlene
-
Italian Renaissance Humanism in the Mirror. Cambridge, 2015
Baker, Patrick
-
Nützliche Feindschaft? Existenzbedingungen demokratischer Imperien - Rom und USA. Paderborn, 2015
Walter, Marco
-
Shakespeares Exzess. Sympathie und Ökonomie. Wiesbaden, 2015
Lobsien, Verena
-
Der Panbabylonismus. Die Faszination des himmlischen Buches im Zeitalter der Zivilisation. Berlin, 2016
Weichenhan, Michael
-
Inszenierung der Antike. Präsentationskonzepte in öffentlichen Antikenmuseen des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Wiesbaden, 2016
Berger, Frederik
-
Studien zur Praxis der Übersetzung antiker Literatur. Geschichte - Analysen - Kritik. Berlin/ Boston, 2016
Kitzbichler, Josefine; Ulrike C.A. Stephan (Hg.)
-
Vitruvianism. Origins and Transformations. Berlin/ New York, 2016
Sanvito, Paolo (Hg.)
-
Walter F. Ottos Studie „Dionysos. Mythos und Kultus“. Antike-Forschung und moderne Kultur. Würzburg, 2016
Leege, Oliver
-
Andere Ökologien. Transformationen. Paderborn/ München, 2017
Därmann, Iris; Stephan Zandt (Hg.)
-
Berlin-Babylon. Eine deutsche Faszination. Berlin, 2017
Polaschegg, Andrea; Michael Weichenhan (Hg.)
-
Ciriaco d’Ancona und die Wiederentdeckung Griechenlands im 15. Jahrhundert (Cyriacus 9). Petersberg, 2017
Chatzidakis, Michael
-
Spielräume der Alten Welt. Die Pluralität des Altertums in Dramentheorie, Theaterpraxis und Dramatik (1790-1870). Berlin / New York, 2017
Krippner, Friederike