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Russische Literatur als Brückenschlag zwischen Deutschland Ost und West (1945-1990)

Fachliche Zuordnung Europäische und Amerikanische Literatur- und Kulturwissenschaften
Förderung Förderung von 2007 bis 2011
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 55867000
 
Erstellungsjahr 2011

Zusammenfassung der Projektergebnisse

In der Gründungsphase der beiden deutschen Staaten herrscht eine größere Vielfalt an literarischen Zeitschriften im Osten Deutschlands vor, wobei der deutsche Leser offenbar zunächst durch „Klassiker“ wie Puškin und Lermontov mit der russischen Literatur bekannt gemacht werden soll. Daneben kristallisiert sich die Favoritenrolle Majakovskijs heraus. West-Zeitschriften wie der Merkur oder Akzente setzen demgegenüber von Anfang an vor allem auf die „klassische Moderne“ mit Esenin und Blok als maßgeblichen Repräsentanten. Beide, wie auch Majakovskij, erscheinen in der westdeutschen Rezeption seit Ende der fünfziger Jahre zunehmend als tragische, an der Revolution gescheiterte Dichter. Zugleich kommt Paul Celan in seiner Eigenschaft als Übersetzer russischer Lyrik gleichsam eine Vermittlerfunktion zwischen den Zeitschriften Akzente und Neue Rundschau auf westdeutscher Seite sowie Sinn und Form auf ostdeutscher Seite zu. Der Mauerbau von 1961 wird in den ostdeutschen Literaturzeitschriften nicht thematisiert, aber auch in den westdeutschen Pendants damals nicht wirklich aufgearbeitet. Im Einklang mit der in den siebziger Jahren einsetzenden zunehmenden Entspannung steht die „Entdeckung“ der in der Sowjetunion politisch verfolgten Lyriker Osip Mandel'štam und Marina Cvetaeva in Sinn und Form; diese wird ihrer Bedeutung – ungeachtet der zeitlichen Verzögerung – deutlich mehr gerecht als die ostdeutsche Literaturgeschichtsschreibung jener Jahre, in der beide nur ein marginales Dasein fristen. In der Wendezeit tritt auf beiden Seiten einmal mehr die besondere Bedeutung Sergej Esenins hervor, der zu den in den ost- und westdeutschen Literaturzeitschriften am intensivsten rezipierten russischen Lyrikern gehört. Die analysierten Doppelübersetzungen sind im allgemeinen auf beiden Seiten aneignend; Interlinearversionen finden sich selten (z.B. Friedrich Hitzer in Kürbiskern), doch liegt auch bei Dichter-Übersetzern wie Rainer Kirsch zuweilen eine Tendenz zu nicht gebundener Rede und dezidierter lexikalischer Äquivalenz vor. Aus diesem Grund sind die bei den Übersetzungsvergleichen zutage getretenen Varianten auf verstechnischer und/oder semantischer Ebene vor allem den individuellen und unverwechselbaren 'Stimmen' der einzelnen Übersetzer geschuldet und nur selten mit politischen Gegebenheiten zu begründen. Die Übersetzer lassen sich in ihrer Arbeit offenbar primär von ästhetischen Gesichtspunkten leiten. Aufschlussreich im Hinblick auf die oben skizzierten Rezeptionsphasen ist vor allem der Zeitpunkt der Publikation eines bestimmten Autors in den Literaturzeitschriften; hervorgehoben sei in diesem Zusammenhang nochmals die „Entdeckung“ Mandel'štams und Cvetaevas in Sinn und Form in den siebziger Jahren. Die thematische Vielfalt ihres lyrischen Werks erschließt sich dem ostdeutschen Leser also auffälligerweise zunächst durch wiederholte Zeitschriftenpublikationen, die der literaturgeschichtlichen Akzeptanz vorangeht und diese bedeutend fördert. Die von uns beobachtete allmähliche Öffnung gegenüber systemkritischer russischer Lyrik in den siebziger Jahren in der DDR wurde auf der im März vergangenen Jahres durchgeführten Tagung auch in Bezug auf die Prosa bestätigt und ist daher offenbar von grundsätzlicher Natur. Insbesondere die Lyrik Sergej Esenins kann auf ganz verschiedene, ja gegensätzliche Weise gelesen bzw. politisch vereinnahmt werden: Häufig verbindet Esenin die Gestaltung religiöser und sozialistischer Utopien, ohne doch in der vermeintlichen neuen Weltordnung einen Ort des Schreibens finden zu können. Als immer wiederkehrende Schlüsselthemen treten bei den unterschiedlichen Autoren die Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs (mehr noch als die Oktoberrevolution), das „ewige“ Russland und die Aufgabe des Dichters hervor, der als Chronist und Visionär gleichermaßen verstanden wird. Der Dichter ist aufgerufen, sein persönliches Erleben und seine Inspiration in den Dienst einer überpersönlichen Sache zu stellen, die Erinnerung zu bewahren und die Zukunft zu gestalten. In systemkritischer Lyrik kommt vor allem der erstgenannte, in systemkonformer Lyrik hingegen der letztgenannte Aspekt zum Tragen.

 
 

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