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Die „sanitäre Krise der Städte“ – Wasserinfrastrukturen und Daseinsvorsorge in Reval (Tallinn), Riga und Wilna (Vilnius) (1870er Jahre bis 1921)

Fachliche Zuordnung Neuere und Neueste Geschichte (einschl. Europäische Geschichte der Neuzeit und Außereuropäische Geschichte)
Förderung Förderung seit 2025
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 561078483
 
Das zarische Innenministerium beklagte 1913 eine "sanitäre Krise der Städte". Die hohe Mortalität in Städten u.a. durch Typhus und Cholera erforderte Handeln. Sauberes Trinkwasser und die hygienische Entsorgung von Abwässern versprachen Abhilfe. Das komparative Projekt untersucht Wasserinfrastrukturen an der Schnittstelle von Imperiums-, Stadt-, Technik-, Hygiene-, Umwelt-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Es thematisiert am Beispiel der Städte Reval (Tallinn), Riga und Wilna (Vilnius) von den 1870er Jahren bis 1921 drei für die menschliche Daseinsvorsorge relevante Felder: die Trinkwasserversorgung, die Abwasserentsorgung bzw. Kanalisation sowie den Nexus von "Public Health", Infrastrukturen, Umwelt und Wasserverschmutzung. Das Projekt eröffnet eine grundlegende Perspektive auf die Politisierung der Daseinsvorsorge und das enge Wechselverhältnis von Infrastrukturen und politischen Systemen. Die Hypothese ist, dass trotz der politischen Unterschiede zwischen Autokratie, deutschem Besatzungsregime und den sich etablierenden demokratischen Nationalstaaten nach dem Ersten Weltkrieg die Bedeutung von Wasserinfrastrukturen unstrittig war. Das Projekt fragt, auf wessen Initiative wann, wie und warum Wasserinfrastrukturen entstanden. Wie verliefen Planung, Finanzierung und praktische Durchführung des Netzausbaus? Wer nutzte die Wasserinfrastrukturen in welchem Maße, wer profitierte von ihnen, wie äußerte sich Widerstand und wie wurde auf Versorgungskrisen reagiert? Besondere Beachtung gilt den (Dis)Kontinuitäten dieser Fragen in Zeiten der Regimewechsel. Die Allokation von Wasser ist eine Frage politischer Macht; und diese war in den Ostseestädten in Zeiten des Nationalismus umkämpft. Wasserinfrastrukturen waren inklusiv und demokratisierend, weil sie jedem zugänglich sein sollten, aber lange exklusiv, integrierend wie sozial segregierend, Distinktionsmerkmal und Mittel, um Macht auszuüben. Sie waren teuer und Anleihen-finanziert. Die Städte waren der Gemeinwohlvorstellung verpflichtet. Daher war ein interethnischer Modus vivendi unabdingbar. Da die Städte an einer raschen Amortisation interessiert waren, begann der Bau im Zentrum. Hier lebten die zahlungskräftigen Städter, überproportional Deutschbalten. Die überwiegend von Letten, Esten u. a. Ethnien bewohnte Peripherie kam bestenfalls später in den Genuss der Versorgungsleistungen. Bei der Nutzung der Infrastrukturen existierten "Grenzen der Gemeinsamkeit"; aber diese waren, so die These, eher sozial als ethnisch definiert. Das Projekt folgt konzeptionell einem "transnationalen Munizipalismus", fügt aber der munizipalen Kooperation über nationalstaatliche Grenzen hinweg eine Binnenperspektive hinzu. Das Projekt historisiert "kritische" Infrastrukturen. Ihre existenzielle Bedeutung hat Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine 2022 ins Bewusstsein zurückgerufen. Ein Ziel der Attacken ist es, die Infrastruktur ukrainischer Städte zu zerstören.
DFG-Verfahren Sachbeihilfen
 
 

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