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Entscheidende Millimeter. Kaliberstandardisierungen im langen 20. Jahrhundert
Antragsteller
Dr. Benedikt Sepp
Fachliche Zuordnung
Neuere und Neueste Geschichte (einschl. Europäische Geschichte der Neuzeit und Außereuropäische Geschichte)
Förderung
Förderung seit 2025
Projektkennung
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 561535129
700 Menschen fallen täglich Handfeuerwaffen zum Opfer, das sind 45% aller gewaltsamen Tode weltweit. In den letzten Jahren führte dies zu einem zunehmenden Forschungsinteresse an Feuerwaffen, das im Hinblick auf die Praxis des Schießens und Tötens jedoch im Grunde am Thema vorbeigeht – denn die eigentliche Funktion übt die in die Waffe eingeführte Munition aus. Die seit den 1880er Jahren verwendete Zentralfeuerpatrone besteht aus einer Messinghülse, die das Geschoss, eine Zündvorrichtung sowie die Treibladung beinhaltet – Aufbau und Funktion haben sich seitdem nicht verändert, (nahezu) alle Handfeuerwaffen weltweit funktionieren nach diesem Prinzip. Dennoch sind Patronen nicht gleich – sie unterscheiden sich aber im Wesentlichen nur in ihrer Länge und Breite. Weil diese beiden Maße von der Reichweite, Durchschlagskraft, Lautstärke und Tödlichkeit des Schusses über die Benutzerfreundlichkeit der Waffe bis hin zu Volumen, Gewicht und Preis allerdings zahlreiche Faktoren beeinflussen, stellen sie wesentliche Marker für Zukunftserwartungen, Selbstbilder und Feindkonstruktionen dar. Pointierter: Zwei Millimeterangaben verraten, auf wen, wo und mit wem der entscheidende Akteur wann zu schießen plant. Kontinuität und Anpassung des Artefaktes „Patrone“ stehen im Fokus des Projektes. Sie eröffnen einen Zugang zur Analyse der Verschränkung von technologischem „Fortschritt“, Zeitlichkeit und Gewalt vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Denn mit bestimmten Patronentypen zirkulieren auch damit ermöglichte Gewaltformen: Mit einem Kaliber aus dem russischen Zarenreich konnten die Taliban durch seine hohe Reichweite den NATO-Truppen in Afghanistan empfindliche Verluste zufügen, während Drogenkartelle heute eine spezielle Patrone aus dem Ersten Weltkriegs umfunktionieren, um Hubschrauber der mexikanischen Armee anzugreifen. Dieser Aspekt des andauernden Neu-Entwerfens des Schon-Dagewesenen erlaubt so eine Gegengeschichte zu der Erzählung eines steten technischen Fortschritts oder einer immerwährenden Effektivitätssteigerung der Gewaltausübung; gleichzeitig dezentriert dieser langfristige Blick das Militärische, das man in einer solchen Geschichte zentral erwarten würde. Stattdessen werden Schnittstellen etwa zwischen Militär, Polizei, Söldnerwesen und Kriminalität hervorgehoben, an denen mit spezifischen Kalibern verbundene Gewaltpraktiken zirkulieren. Bedenkt man die lange Lebens- und Einsatzdauer von Feuerwaffenmunition, zeigt sich diese also als geeignetes Objekt, um die Komplexität von Kontinuität, Transfer und Wandel spezifischer Gewaltpraktiken über weitreichende zeitliche und räumliche Distanzen hinweg zu untersuchen. Das beantragte Projekt verfolgt als roten Faden das Ziel, anhand eines bestimmten Kalibertyps, der so genannten Mittelpatronen, die ab den 19980er Jahren beobachtbare Diffusion von ursprünglich militärischen Gewaltformen in nicht-militärische Gesellschaftsbereiche als „entangled history“ tödlicher Gewalt zu schreiben.
DFG-Verfahren
Sachbeihilfen
