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Der "überwachte" Bürger zwischen Apathie und Protest. Zur Genese neuer staatlicher Kontrolltechnologien und ihren Effekten auf Einstellungen und Verhalten der Bevölkerung

Fachliche Zuordnung Empirische Sozialforschung
Förderung Förderung von 2008 bis 2013
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 62379905
 
Erstellungsjahr 2013

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Das Projekt verfolgte zwei Ziele: 1) Die theoriegeleitete Erklärung von Effekten neuer Kontroll- und Überwachungstechnologien auf Einstellungen und Verhalten der Bevölkerung sowie die Überprüfung entsprechender Hypothesen anhand von Strukturgleichungsmodellen (Bevölkerungsbefragung). 2) Die Analyse der Gesetzgebungsverfahren zu diesen Überwachungstechnologien (Inhaltsanalyse) sowie der Einstellungen, Bewertungen und Annahmen von politischen Entscheidungsträgern und Vertretern von Bürgerrechtsorganisationen (Leitfadeninterviews). Im Mittelpunkt des Projektes standen folgende sieben Kontroll- und Überwachungstechnologien: elektronische Ausweisdokumente, Online-Zugriff auf digitalisierte Lichtbilder, Kontenabrufverfahren, Vorratsdatenspeicherung von Telefon- und Internetverbindungsdaten, Online-Durchsuchung, Antiterrordatei und Passagierdatenspeicherung. Die Ergebnisse der Bevölkerungsbefragung zeigen, dass diese Kontroll- und Überwachungstechnologien von den Bürgern durchaus ambivalent wahrgenommen werden. Die Mehrheit der Befragten hat das Gefühl, die Kontrolle darüber zu verlieren, ob, wie und in welchem Ausmaß sie vom Staat überwacht wird und was mit den persönlichen Daten geschieht. Auch wird eher bezweifelt, dass Behörden vertrauenswürdig mit diesen Daten umgehen und sie nur zweckgebunden verwenden. Allerdings fühlt sich der überwiegende Teil der Befragten nicht überwacht, denn er hat nicht den Eindruck, in seiner Privatsphäre verletzt und vom Staat ungerechtfertigt verdächtigt zu werden. Zudem fühlen sich die Befragten durch diese Maßnahmen tatsächlich sicherer. Insofern scheint das Sicherheitsempfinden auf der einen Seite eine positive Bewertung von Kontrolltechnologien zu befördern und das durchaus vorhandene Misstrauen in die staatliche Datenverwendung zu überlagern. In diesem Sinne werden die Kontrolltechnologien als konsequente oder sogar notwendige Antwort auf eine neue Bedrohungslage betrachtet, die es erforderlich macht, für die Gewährleistung von Sicherheit Einschränkungen in Kauf zu nehmen. Auf der anderen Seite ist jedoch durchaus eine Ab- oder Gegenwehr in der Bevölkerung auszumachen. Die Befunde deuten darauf hin, dass eine nicht zu vernachlässigende ‚kritische Masse’ existiert, die den Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen ablehnend gegenübersteht. Dieser Teil der Bevölkerung tendiert klar zum Protest und scheint nicht gewillt zu sein, Einschnitte in Bürger- und Freiheitsrechte in Kauf zu nehmen, was in praktizierten oder intendierten Schutz- und Gegenmaßnahmen sowie dem Engagement für Bürger- und Datenschutzrechte seinen Ausdruck findet. Bürgerinnen und Bürger setzen sich mit den Konsequenzen aktueller Sicherheitsgesetze auseinander und bilden sich eine Meinung dazu, die durch Ängste, punitive Einstellungen, Viktimisierungserfahrungen und auch von soziodemographischen Merkmalen beeinflusst wird. Im Zusammenhang mit der generellen Einstellung zu Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen lassen sich Neutralisierungstechniken, Protestnormen und Widerstandshandlungen messen, die umso stärker ausgeprägt sind, je negativer die Befragten den untersuchten Maßnahmen gegenüberstehen. Vor dem Hintergrund der Leitfadeninterviews mit politischen Entscheidungsträgern und Vertretern von NGOs sowie der Analyse der Gesetzgebungsverfahren ist in diesem Zusammenhang zu konstatieren, dass die Problemdiskurse über die Risiken und Gefahren, die mit der Ausuferung staatlicher Überwachung von den Experten wahrgenommen werden, sowohl auf politischer als auch auf bürgerrechtlicher Ebene derart verrechtlicht geführt werden, dass sie kaum Einfluss auf das Problembewusstsein der Bürger nehmen und damit auch die Akzeptanzbasis der Kontrolltechnologien nicht ernstlich erschüttern können. Obschon die Forschungsergebnisse noch relativ aktuell sind, erscheinen sie bereits durch das aktuelle Zeitgeschehen überholt. Angesichts des Bekanntwerdens der Überwachungsmöglichkeiten durch PRISM ist die Wirksamkeit der untersuchten Schutz- und Gegenmaßnahmen neu zu beurteilen. Der Mehrwert dieser Untersuchung ist also in erster Linie darin zu sehen, dass sie ein nicht zu vernachlässigendes Abwehr- oder Widerstandspotenzial in der Bevölkerung – unabhängig ob und wie sich dieses in der Praxis realisieren würde – festgestellt hat.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • (2010): Stärkung des Vertrauens in die Regierung durch Terrorismusbekämpfungsmaßnahmen? In: Kriminalistik 64. S. 570-575
    Schlepper, Christina/Lüdemann, Christian
  • (2010): „Willingness to Pay for Security” bei Passagierkontrollen am Flughafen. Zu den individuellen Kosten öffentlicher Sicherheit. In: Soziale Probleme 21. S. 117-134
    Lüdemann, Christian/Schlepper, Christina
  • (2011): Der überwachte Bürger zwischen Apathie und Protest. Eine empirische Studie zum Widerstand gegen staatliche Kontrolle. In: N. Zurawski (Hg.): Überwachungspraxen. Praktiken der Überwachung und Kontrolle. Opladen/Farmington Hills. S. 119-138
    Lüdemann, Christian/Schlepper, Christina
  • (2011): Plädoyer für eine unabhängige und grundrechtsgerechte Evaluation der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung. In: Neue Kriminalpolitik 23. S. 70-75
    Schlepper, Christina/Leese, Matthias
  • (2011): Strategien der Legitimation restriktiver Sicherheitspolitik. Experteninterviews mit politischen Entscheidungsträgern und Vertretern von Bürgerrechtsorganisationen. In: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform 94. S. 199-212
    Schlepper, Christina
  • (2012): The Role of Fear in the Surveillance State in Times of Terrorism. Explaining Attitudes towards New Governmental Security Measures. In: S. Salzborn/E. Davidov/J. Reinecke (Hg.): Methods, Theories, and Empirical Applications in the Social Sciences. Festschrift for Peter Schmidt. Wiesbaden. S. 263-270
    Lüdemann, Christian/Schlepper, Christina
  • (2013): The Perceived Threat. Determinants and Consequences of Fear of Terrorism in Germany. In: F. Flammini/R. Setola/G. Franceschetti (Hg.): Effective Surveillance for Homeland Security: Balancing Technology and Social Issues. London. S. 71-85
    Leese, Matthias
  • (2014): Die gesellschaftliche Konstruktion von Sicherheit. Zur medialen Vermittlung und Wahrnehmung der Terrorismusbekämpfung. Schriftenreihe Forschungsforum Öffentliche Sicherheit Berlin
    Krasmann, Susanne/Kreissl, Reinhard/Kühne, Sylvia/Paul, Bettina/Schlepper, Christina
 
 

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