Fallrekonstruktionen der biographischen Einbettung und der sozialen Bezüge von Weltsichten in prekären Lebenslagen
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Das Projekt untersuchte Welt- und Lebensdeutungen von Beziehern von Arbeitslosengeld II (ALG II) mit einem qualitativ-rekonstruktiven Zugang. Basis der Analysen waren biographisch-narrative Interviews mit einem breiten Spektrum von Leistungsbeziehern: Langzeitarbeitslose, in Ein-Euro-Job-Maßnahmen Beschäftigte ebenso wie aufstockende Erwerbstätige. Die biographischen Interviews ermöglichen die Rekonstruktion von Weltsichten und der in ihnen verarbeiteten, aufgeschichteten lebensgeschichtlichen Erfahrung. Damit kamen die Biographien der untersuchten Fälle als produktive und kreative Verarbeitung gesellschaftlicher Anforderungen, Zumutungen und Handlungsspielräume auf der einen Seite und des den Betroffenen individuell „Aufgegebenen“ auf der anderen Seite in den Blick. Die Analysen ergaben, dass nahezu alle Fälle gegen viele Hürden und Enttäuschungen eine ausgeprägte Arbeitsorientierung aufrecht erhalten und um soziale Anerkennung kämpfen. Die Fallrekonstruktionen zeigen, dass gerade Leistungsempfänger, deren Chancen auf eine dauerhafte Existenz sichernde Erwerbsarbeit aufgrund von Massenarbeitslosigkeit und persönlichen Hindernissen gering sind, dennoch beharrlich an einer Arbeitsorientierung als zentraler Lebensperspektive festhalten. Als ein geeigneter Weg in eine durch Erwerbsarbeit gesicherte ökonomische Unabhängigkeit werden Maßnahmen der Arbeitsagenturen – bei aller Kritik an der Sinnlosigkeit von einzelnen – durchaus als Angebote wahrgenommen. Die Herkunftsfamilie erwies sich als ambivalentes Erbe: Einerseits ist sie oft der Ort früher Ablösung, von Erfahrungen von Gewalt, Vernachlässigung und mangelnder Anerkennung; gleichzeitig bleiben die Probanden stark an ihre Herkunftsfamilie gebunden, da diese ein wichtiges (bzw. oft das einzige) Unterstützungsnetzwerk darstellt. Als zweites Erhebungsinstrument dienten Gruppendiskussionen, mit denen kollektive Orientierungen erfasst werden können. In den Gruppendiskussionen konnten sowohl die Herstellung von Gemeinsamkeiten als auch Abgrenzungen nach „außen“ beobachtet werden. Ein zentrales Thema war die Betonung der eigenen Erwerbsorientierung – verbunden mit dem Einklagen von Zugehörigkeit über Arbeit und mit der Abgrenzung von anderen Leistungsempfängern, denen mangelnder Arbeitswille zugeschrieben wurde. Das medial transportierte vom „faulen Arbeitslosen“ wird von vielen ALG-II-Empfängern durchaus geteilt, auch wenn es – wie sie betonen – auf sie selbst nicht zutreffe. Das ursprünglich aus der Religionssoziologie stammende Weltsichten-Konzept stellte einen innovativen Zugang zu den Welt- und Lebensdeutungen von ALGII-Empfängern dar. Zum einen standen in den letzten Jahrzehnten in der qualitativ orientierten Religionssoziologie die Mittelschichten stärker im Zentrum des Interesses, während die „negativ Privilegierten“ (Max Weber) unterbelichtet geblieben waren. Zum anderen ermöglichte das Weltsichten-Konzept die Unterscheidung religiöser und nichtreligiöser Weltdeutungen. Der Bezug auf religiöse Semantiken diente in den Interviews zur Thematisierung und Bearbeitung von existentiellen Kontingenzerfahrungen. Dies bedeutete nicht immer eine Bewältigung von Kontingenz im Sinne einer Kosmisierung, d.h. einer kognitiven Herstellung von Ordnung, sondern eine Formulierung der erfahrenen Unsicherheit und Heteronomie in einer von der Alltagspraxis unterschiedenen spezifischen Sprache. Die Einforderung von Sicherheit richtete sich stärker auf einer Ebene „mittlerer Transzendenz“ (Thomas Luckmann) – und damit in säkularisierter Form – an den Staat. In der zivilreligiösen Betonung von Arbeit als zentral für die soziale Zugehörigkeit und die eigene Identität kommt ein vor allem in Ostdeutschland zu findendes säkularisiertes Erbe des lutherischen Berufsgedankens zum Ausdruck. Auch in dieser Hinsicht erwies sich die religionssoziologische Orientierung des Forschungsprojektes als sehr ertragreich. Der Bezug auf religiöse Begriffe war meist mit einem Vorbehalt oder einer Distanzierung versehen, indem er z.B. als Gedankenspiel oder als tröstende Hypothese markiert wurde. Die Idee einer „immanenten Transzendenz“ (z.B. als ein Weiterleben der Toten in der Erinnerung der Lebenden oder als eine stoffliche Kontinuität im Naturkreislauf) hatte demgegenüber eine höhere Plausibilität. Das als Heuristik dienende Weltsichten-Konzept wurde im Forschungsprozess durch die Auseinandersetzung mit soziologischen Theorien, vor allem aber mit dem empirischen Material modifiziert. Die Analysen ergaben, dass Arbeitslosigkeit mit ganz unterschiedlichen Weltdeutungen und Weltverhältnissen verbunden sein kann: mit der Wahrnehmung einer fundamentalen Unordnung ebenso wie einer Wohlgeordnetheit der Welt, von Heteronomie und Entfremdung wie von eigenen Gestaltungsmöglichkeiten, mit einem aktiv-handelnden wie einem passiv-erleidendem Weltverhältnis. Dabei spielen zwei Aspekte eine entscheidende Rolle: zum einen die Existenz von Kontrasthorizonten und ihre Fundierung in der alltäglichen Lebenspraxis und der Biographie. Wenn die Erfahrung gemacht wurde, dass das Leben tatsächlich Möglichkeiten bereit hält, die über das alltäglich Gegebene hinaus reichen, kann dadurch das Vertrauen in die eigene Handlungsmächtigkeit gestärkt und eine optimistische Einstellung befördert werden. Die Kontrasthorizonte können so handlungsrelevant werden. Zum anderen haben die verfügbaren Semantiken und Wissensbestände, auf die bei der Deutung der Welt und des eigenen Lebens zurückgegriffen werden kann, eine große Bedeutung. Sie tragen dazu bei, dass Erfahrungen von Kontingenz wie von Heteronomie eingeordnet und zu Weltsichten verdichtet werden.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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(2010): Individueller Anspruch versus erzwungene Gemeinschaft: Auswirkungen des Verwaltungshandelns auf Biographie und Lebensführung von ALG-II-Empfängern am Beispiel der "Bedarfsgemeinschaft". In: BIOS 23: 28-46
Kornelia Sammet & Marliese Weißmann
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(2011): Arbeit als Sinnstiftung in prekären Lebenslagen in Ostdeutschland. In: Gert Pickel und Kornelia Sammet (Hg.): Religion und Religiosität im vereinigten Deutschland. Zwanzig Jahre nach dem Umbruch1989-2010. Wiesbaden: VS-Verlag. 263-278
Marliese Weißmann, Daniel Bergelt & Timmo Krüger
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(2012): Atheism and Secularism: Cultural Heritage in East Germany. In: Francis-Vincent Anthony and Hans-Georg Ziebertz (eds.): Religious Identity and National Heritage. Empirical-Theological Perspectives. Leiden: Brill. 269-288
Kornelia Sammet
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(2012): Autonomiepotentiale, Erwerbsorientierungen und Zukunftsentwürfe von „sozial benachteiligten“ Jugendlichen. In: Jürgen Mansel und Karsten Speck (Hg.): Jugend und Arbeit. Empirische Bestandsaufnahme und Analysen. Weinheim: Beltz Juventa. S. 175-191
Kornelia Sammet & Marliese Weißmann
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(2012): Femmes précaires et religion en Allemagne de l’Est. Social Compass 59(1): 102-119
Kornelia Sammet & Marliese Weißmann
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(2012): The Modernisation of Gender Relations and Religion: Comparative Analysis of Secularization Processes. In: Gert Pickel and Kornelia Sammet (ed.): Transformations of Religiosity. Religion and Religiosity in Eastern Europe1989 - 2010. Wiesbaden: VS-Verlag. 51-68
Kornelia Sammet & Daniel Bergelt
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(2012): The observation of the unobservable: ideas of afterlife in a sociological perspective. In: Marius Rotar, Corina Rotar and Adriana Teodorescu (eds.): Dying and Death in 18th-21st Century Europe. Annales Universitatis Apulensis, Series Historica, Special Issue. 437-445
Kornelia Sammet & Franz Erhard