Kulturgeschichte deutscher Auseinandersetzungen mit Shakespeares 'Der Kaufmann von Venedig' nach 1945
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Der Shakespeare-Forscher Dennis Kennedy hat die besondere Bedeutung des Kaufmann von Venedig vor dem Hintergrund von modernem Antisemitismus und Holocaust prägnant zusammengefasst: „[S]ince 1945 we have been in possession of a new text of the play, one which bears relationships to the earlier text but is also significantly different from it.“ Das Forschungsprojekt „Shylock und der (neue) ‚deutsche Geist‘“ widmete sich der detaillierten Analyse dieses „neuen Texts“, wie er in der Artikulation des Stücks und der Shylock-Figur durch zeitgenössische Lektüren und Inszenierungen entstanden zu sein scheint. Untersucht wurde die Rezeption zur Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, in der BRD, der DDR sowie im wiedervereinigten Deutschland. Dabei wurde deutlich, dass in Wirklichkeit von einer Vielfalt von neuen Texten gesprochen werden muss, deren widersprüchliche Bedeutungen und Wirkungen sich in komplexen Rezeptionsprozessen stets neu konstituieren. Zudem war zu konstatieren, dass die Erinnerungsfunktion der Shylock-Figur permanent mit anderen Bezugnahmen konkurriert – insbesondere (1.) mit einem problematischen Identitätsdiskurs, der Imaginationen des Jüdischen einer dezidiert nicht-jüdisch gedachten Gemeinschaft gegenüberstellt, sowie (2.) mit gegenwärtigen Tendenzen, das Stück im Zusammenhang des globalisierten Kapitalismus, der Aushandlung geschlechtsspezifischer Rollenzuschreibungen und des Zusammenlebens in einer durch Einwanderung geprägten Gesellschaft zu aktualisieren. In der Projektarbeit wurde umfangreiches Material zur Rezeption des Stücks erschlossen, ausgewertet, in vielfältigen Publikationen diskutiert und teilweise auch direkt öffentlich zugänglich gemacht. Etablierte Forschungsmeinungen über die dramatischen und ideologischen Funktionen von Stück und Figur konnten in signifikanter Weise ergänzt, in einer Reihe sehr wichtiger Punkte aber auch revidiert werden (z. B. Rezeption des Stücks während der NS-Zeit und im unmittelbaren Nachkrieg, Funktion Shylocks als ‚Erinnerungsfigur‘). Dabei wurde erstens das Rezeptionsgeschehen als konfliktreiche Überlagerung verschiedener Diskursfelder (Identität, Erinnerung, Ökonomie, Gender und Sexualität) neu perspektiviert. Zweitens gelang es, Shylock als eine überdeterminierte Figur zu begreifen, in deren Darstellung und Rezeption heterogene Diskurse zueinander in Beziehung gesetzt bzw. miteinander verwechselt werden. Drittens wurde zwischen den unterschiedlichen mimetischen und symbolischen Bezugnahmen auf den Holocaust differenziert, die in den Inszenierungen des Stücks bzw. den Verkörperungen Shylocks auf der Bühne aufgerufen werden. Auf diese Weise ergaben sich wichtige Einblicke in die Mechanismen der Konstruktion jüdischer Identität, in die Beharrungskraft antisemitischer Vorstellungsmuster und in die Potentiale und Grenzen einer über Shakespeares Stück – sowie in der Übertragung auch über andere literarische oder theatralische Praktiken – vermittelten Erinnerung an den Holocaust.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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„Remember Me: The Merchant of Venice on the Postwar German Stage“, in: Shakespeare Survey 63 (2010): 290-300
Sabine Schülting
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„Zwischen Erinnerungstheater und ‚Globalisierungsdramatik‘: Shylock in aktuellen deutschen Inszenierungen“, in: Shylockgestalten, Themenheft von Maske und Kothurn: Internationale Beiträge zur Theater-, Film-, und Medienwissenschaft 56.3 (2010): 11–22
Zeno Ackermann und Sabine Schülting
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Shylock nach dem Holocaust: Zur Geschichte einer deutschen Erinnerungsfigur (Berlin: De Gruyter, 2011), Conditio Judaica 78
Zeno Ackermann und Sabine Schülting
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„Performing Oblivion / Enacting Remembrance: The Merchant of Venice in West Germany, 1945 to 1961“, in: Shakespeare Quarterly 62.3 (2011): 364–395
Zeno Ackermann
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„Shakespearean Negotiations in the Perpetrator Society: German Productions of The Merchant of Venice during the Second World War“, in: Irena R. Makaryk und Marissa McHugh (Hg.), Shakespeare and the Second World War: Theatre, Culture, Identity (Toronto: University of Toronto Press, 2012), 35–62
Zeno Ackermann