Die Fürstenbibliothek Arolsen als Kultur- und Wissensraum und ihre Einflüsse auf Genese, Formung und Identität des Fürstenstaats
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Im Rahmen des Projekts sind vor dem Hintergrund unzähliger Neufunde in Archiven (Briefe, Kataloge, Besitz- und Ausleihverzeichnisse, Verträge uvm.), aber auch in der Arolser Hofbibliothek selbst (Kartenwerke, Zeitschriften, Klebebände, annotierte Exemplare) zunehmend mehr – exemplarische – Konturen des frühmodernen Fürstenstaates sichtbar geworden. Als kulturelle Schnittstellen haben sich dabei die Personen selbst sowie die Bibliotheken und Sammlungen der einzelnen Mitglieder des Grafen- und später Fürstenhauses Waldeck erwiesen. In ihnen wurde eben nicht nur das Wissen der Zeit gesammelt, sie waren gleichzeitig auch nach außen und innen wirkende Katalysatoren des Austausches, der Vernetzung und der Entwicklung. In der Außenperspektive wurde sichtbar, wie über Bücher, Kunstgegenstände und die Kommunikation über und durch sie kulturelle Netzwerke in europäischer Dimension entstehen. Im Waldecker Umfeld ließ sich dies durch zahlreiche Archivalien und die in großer Zahl erhaltenen Briefe und Bücher mit Nutzerspuren aller Art beinahe minutiös bis hin zu persönlichen Beziehungen nachvollziehen. Genau diese persönlichen Beziehungen der Waldecker etwa zu Blumenbach, Heyne, Humboldt und Goethe auf der einen und zu den hochfürstlichen Häusern in ganz Europa auf der anderen Seite eröffneten ein ums andere Mal Beziehungsgeflechte von grundlegender Bedeutung, so z.B. die bis dato unbekannte Bedeutung der Waldecker Fürsten Friedrich und Georg für den Aufbau der Universität Göttingen. Ebenfalls sichtbar wurden geistesgeschichtliche Entwicklungen, die z.T. in Spannung zu den ‚üblichen’ Leitlinien stehen, wenn in der Bibliothek z.B. alte, überkommende, von mittelalterlichem Denken geprägte Geschichtswerke unmittelbar neben hochmodernen Werken der Aufklärung stehen, wenn antike Klassiker in Originalsprache neben Schulbüchern mit geradezu trivialen Antikevorstellungen stehen, wenn in der Schaumburgischen Lesegesellschaft keine zeitgenössischen Klassiker auftauchen, wohl aber Vampyrliteratur und Liebesromane in großer Fülle. Der Blick auf Waldeck erweist sich dabei, wie auf der Tagung im Februar 2012 im Abgleich mit zahlreichen ähnlich gearteten Projekten in ganz Europa eindrücklich bestätigt wurde, als ein Querschnitt, der für das Ganze steht. In der Innenperspektive ergaben sich vor allem hinsichtlich der Landesentwicklung wichtige Einsichten. So haben die Fürsten die Bildung des Landes intensiv durch – jetzt erstmals in allen Dimensionen nachgewiesene – Büchergeschenke an das Gymnasium illustre in Korbach gefördert, gleichzeitig aber auch Schulmänner und Geistliche per Verordnung ‚zwingen’ müssen, das vom Hofdrucker Konert/Weigel und dem Fürstenhof gemeinsam initiierte ‚Waldeckische Intelligenzblatt’ zu abbonieren. Als geradezu typisch erwies sich dabei der bisweilen krasse Gegensatz zwischen einer fürstlichen Avantgardestellung (aktive Teilhabe an den kulturellen und politischen Entwicklungen in europäischer Dimension) und einer zögerlichen Landesentwicklung mit gelegentlich fast bildungsfeindlichem Widerstand der Landeskinder selbst. Geradezu selbstverständlich kümmerten sich die Fürsten intensiv um die Ausbildung ihres Nachwuchses, denn nur der sicherte einem Duodezfürstentum im Konzert der Großen via Heiratsverbindungen und Militärdiensten das Überleben. Aus Waldeckischer Perspektive waren die Ergebnisse dieser Bildungsinitiative überragend, denn die stets hochgebildeten Waldecker und Waldeckerinnen waren bis in die Moderne ebenso begehrte Heiratspartner wie vielseitig verwendbare Militärs. Der in Wien residierende Prinz Georg brachte es im ausgehenden 18. Jahrhundert beispielsweise bis zum Militärchef von Portugal und gehörte als Freund Goethes und Tischbeins sowie europaweit bekannter Kunstsammler gleichzeitig zur kulturellen Avantgarde seiner Zeit. Zieht man Bilanz, sind es vor allem die in unglaublicher Dichte erhaltenen Materialien rund um Bibliotheken und Personen, kulturelle, wirtschaftliche und politische Entwicklungen sowie die vielen Nutzerspuren in Büchern und auf Kartenwerken, welche Nutzungs- und Vernetzungsszenarien von exemplarischer Dimension transparent werden ließen. Für die zukünftige Forschung zu Waldeck, aber auch darüber hinaus zur Genese der Frühmoderne insgesamt, sind diese sichtbar gewordenen Muster eine Folie, vor der Forschungsvorhaben und Forschungserträge abgeglichen werden können. Gleichzeitig stellen die in großer Fülle entdeckten und im open source-Verfahren über das Projektportal online zur Verfügung stehenden Materialien per se einen gewaltigen Fundus für weiterführende kunsthistorische, kulturhistorische, literarhistorische und militärhistorische Forschungen dar. Vor allem die vielen Tausend Portraits in den Klebebänden, die weit über 1.000 Kartenwerke und die Bibliothekskataloge und Ausleihverzeichnisse, aber auch Einzelfunde wie Francesco Andreinis ‚Capitan Schröck’ oder die Waldeckbestände in Göttingen verlangen geradezu nach wissenschaftlicher Erschließung.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- Arolsen: ein 'Europa im Kleinen'? Die Hofbibliothek als 'Kultur und Wissensraum' vom 16. bis zum frühen 19. Jahrhundert, in: Waldeckischer Landeskalender 283 (2010), S. 127- 132
C. Fossaluzza
- Aufklärung am Arolser Hof. Moderne pädagogische Konzepte in der Bibliothek der Fürsten zu Waldeck und Pyrmont, in: Geschichtsblätter für Waldeck 98 (2010), S. 89-110
C. Fossaluzza
- Gesichter der Gesellschaft. Die Klebebände der Fürstlich Waldeckschen Hofbibliothek Arolsen, in: Waldeckischer Landeskalender 283 (2010), S. 133-140
M.I. Vogel
- Kindsmord in Waldeck. Die Verordnung "Zur Verhütung des Kinder-Mords" aus dem Jahre 1780, in: Waldeckischer Landeskalender 283 (2010), S. 112-126
S. Enß
- Francesco Andreinis Capitan Schröck in der Fürstenbibliothek Arolsen. Eine neue Quelle zum europäischen Kulturtransfer in der Hofgesellschaft und zur Rezeption der Commedia dell'arte in Deutschland, in: Andreas Gardt; Mireille Schnyder; Jürgen Wolf (Hgg.): Buchkultur und Wissensvermittlung in Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin, Boston, New York 2011, S. 131-146
C. Fossaluzza
(Siehe online unter https://doi.org/10.1515/9783110268799.131) - Kriegstagebücher, Schlachtenbilder und Militärkarten. Die Militaria-Bestände in der Fürstlich Waldeckschen Hofbibliothek, in: Waldeckischer Landeskalender 284 (2011), S. 132-140
T. Künzl
- Repräsentation - Wissen - Öffentlichkeit. Bibliotheken zwischen Barock und Aufklärung, Kassel: kassel university press, 2011
C. Brinker-von der Heyde, J. Wolf (Hgg.)
- Sammlungsobjekte zwischen Bild und Buch. Die Klebebände in der Fürstlich Waldeckschen Hofbibliothek Arolsen, in: Andreas Gardt; Mireille Schnyder; Jürgen Wolf (Hrsg.): Buchkultur und Wissensvermittlung in Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin, Boston, New York 2011, S. 23-40
M.I. Vogel
(Siehe online unter https://doi.org/10.1515/9783110268799.23)