Mechanistische Erklärung in der Systembiologie
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Ein Phänomen wird mechanistisch erklärt, indem aufgezeigt wird, welche Interaktionen von welchen Komponenten eines Systems das Phänomen hervorbringen. In der Systembiologie, dem derzeit größten Zweig der molekularen Physiologie der Zelle, werden alle Teilsysteme der Zelle als Systeme interagierender Moleküle beschrieben. Im Rahmen dieses Projekts wurde untersucht, ob die Angabe solcher Mechanismen in der Systembiologie immer auch erklärende Kraft hat und wie ggf. der Mechanismusbegriff so expliziert werden kann, dass er eine differenzierte Analyse des Gebrauchs mechanistischer Erklärung in den Naturwissenschaften erlaubt. Zunächst musste der Begriff der mechanistischen Erklärung präzisiert werden. Als Beispiele für mechanistische Erklärungen wird in der Literatur eine sehr eingeschränkte Auswahl dessen angeführt, was in den Naturwissenschaften unter diesem Begriff gefasst wird. Um die Angemessenheit der Explikationen zu prüfen, wurde deshalb ein breiteres Spektrum von Beispielen mechanistischer Erklärung aus verschiedenen naturwissenschaftlichen Disziplinen herangezogen. Es zeigte sich, dass sämtliche in der Literatur vorgeschlagenen Mechanismusbegriffe zu eng sind, um alle Beispiele erfassen zu können. Insbesondere konnte gezeigt werden, dass keines der jeweiligen Alleinstellungsmerkmale der unterschiedlichen Explikationen dem Gebrauch mechanistischer Erklärung in den Wissenschaften angemessen sind. Diese Untersuchungen führten zu einer neuen Explikation des Begriffs der mechanistischen Erklärung und zu einer Unterscheidung zweier Mechanismusbegriffe: ein System interagierender Komponenten wird als Maschinerie bezeichnet. Nur eine Maschinerie als dasjenige, was ein Phänomen hervorbringt, erklärt ein Phänomen und zählt damit als ein Mechanismus. Nicht jede beschriebene Maschinerie wird auf ein Phänomen bezogen (und nicht jede mechanistische Erklärung verweist auf eine Maschinerie). In der so genannten top-down Systembiologie werden sehr große metabolische und genregulatorische Netzwerke untersucht und häufig als Boolesche Netzwerke modelliert. Diese Modelle erlauben beispielsweise die Abschätzung der Anzahl möglicher stabiler oder zyklischer Zustände der Zelle. Sie ermöglichen aber nicht, bestimmte Prozesse im Netzwerk auf ein an der Zelle beobachtbares Phänomen zu beziehen. Modelle in der top-down Systembiologie behandeln demnach häufig keine Mechanismen, sondern lediglich molekulare Maschinerien. Damit bieten sie auch keine mechanistische Erklärung. Diese wird in der Systembiologie vornehmlich in den klassischen kinetischen Modellen des anderen Zweigs der Systembiologie vorgefunden, nämlich im von einer Charakterisierung der Zellkomponenten ausgehenden bottom-up Ansatz. Auch hier jedoch können Einschränkungen vorliegen, denn den einzelnen Komponenten eines Netzwerkes werden oft keine spezifischen Funktionen für das Verhalten des Systems zugeordnet. Stattdessen werden alle Funktionen als delokalisiert betrachtet, als vom Netzwerk als Ganzem hervorgebracht. Da mechanistische Erklärungen jedoch ein Phänomen durch Angabe der Beiträge derjenigen Komponenten erklärt, die an der Hervorbringung des Phänomens beteiligt sind, kann ein Modell, das Einzelbeiträgen keine Relevanz zumisst, keine mechanistische Erklärung bieten.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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(2009): Epistemic consequences of two different strategies for decomposing biological networks. In: Dorato M., Rèdei M. & Suárez M. (Hrsg.): Proceedings of the Founding Conference of the European Philosophy of Science Association. Springer, Berlin 2009
Krohs, U.
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(2009b): Dys-, mal- and non-: the other side of functionality. Dys-, mal- et non-: l’autre face de la fonctionnalité. In: Gayon J. & Mossio M. (Hrsg.): Épistémologie de la catégorie de fonction: des sciences de la vie à la technologie. Presses Universitaires de France, Paris 2009
Krohs, U.