Das deutsche Italienbild 1800-1850: Krisis und Wandel
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Die deutsche Annäherung an Italien war vor allem in den letzten 20 Jahren Gegenstand intensiver Forschungen in den Geisteswissenschaften. Bei zunehmender Interdisziplinarität der Ansätze ist in der thematischen Auswahl eine Tendenz zu monographischen Perspektiven unübersehbar; die meisten publizierten Beiträge behandeln bestimmte Persönlichkeiten, Situationen oder Phasen der Italienwahrnehmung, deren Kenntnis dadurch bedeutend gestiegen ist. Darauf aufbauend versucht die Studie, einige als zentral definierte Themen der deutschen Italienwahrnehmung in der longue durée zu verfolgen und dabei kunsthistorische, literatur- und kulturgeschichtliche Materialien und Fragestellungen zu verbinden. Bestätigt werden konnte zunächst die Annahme einer spezifisch deutschen Annäherung an Italien im „langen“ 19. Jahrhundert. Sie ergibt sich vor allem aus der prominenten Rolle, welche das Narrativ der Italienerfahrung für die Konstituierung deutscher kultureller Identität gespielt hat. Auslöser und zugleich Kulmination dieses mehr als hundert Jahre andauernden Prozesses ist bekanntlich Goethes Italienreise, die mit den Reisemustern der internationalen Grand Tour des 18. Jahrhunderts wegweisend gebrochen hatte. Was davon bis ins 20. Jahrhundert hinein in Nachahmung ebenso wie in Widerspruch ein identitätsstiftendes Referenzerlebnis bleiben sollte, ist das zentrale Motiv einer therapeutischen Selbsterneuerung. Fest mit dem deutschen Italienerlebnis verbunden ist seit Winckelmann paradoxerweise die Griechenlandsehnsucht. Neben der Hoffnung auf Selbsterneuerung ist sie als zweites spezifisch deutsches Motiv über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg wirksam. Es ist vor allem diese in Italien ausgelebte Griechenlandsehnsucht, welche die Vorstellung von „klassischer“ Landschaft und damit die Wahrnehmung Italiens grundlegend verändert. Waren noch im 18. Jahrhundert die von Claude Lorrain geprägten Landschaftsmuster verbindlich, so beginnt, wiederum ausgehend von Goethes „homerischem“ Sizilienerlebnis, der Wunsch nach einer griechisch-mythologischen, dezidiert südlichmediterranen Natur bis dahin gültige Sehkonventionen in Frage zu stellen. So verändern sich ab etwa 1800 Erwartung, Wahrnehmung und Wiedergabe italienischer Landschaften teilweise radikal. In Briefen, Reisebeschreibungen, Landschaftsskizzen und -bildern wird diese Entdeckung „südlicher Ikonographie“ aufgegriffen und verarbeitet, woraus sich wiederum neue Sehkonventionen und Landschaftsvorstellungen kristallisieren – ein Phänomen, das in Texten bekannter (z.B. Victor Hehn) und weniger bekannter Reisender sowie in Arbeiten von Malern wie Hackert, Reinhold, Fries, Schilbach, Blechen, Rottmann, Schirmer, Böcklin, Feuerbach und Marées verfolgt wurde. Diese Suche nach neuen Landschafts- und Sehnsuchtsparadigmen gestaltet sich über weite Strecken hinweg als krisenhafter Prozeß, der hier vor allem deswegen so interessant ist, da er die Mechanismen der Italienwahrnehmung offenlegt. Diese lassen sich in einem Kreislauf der Quellen als Wechselwirkung zwischen Vorstellung, Erlebnis und Erinnerung modellhaft beschreiben. Das vielzitierte „Italienbild“ zerfällt dabei in eine Vielzahl sich kreuzender Perspektiven und Blicke, die nicht nur auf Italien gerichtet sind, sondern immer wieder auf Deutschland und den Betrachter selbst zurückfallen. Als eine generationenübergreifende, überwiegend selbstreferentielle Alteritätserfahrung ist die deutsche Italienwahrnehmung im langen 19. Jahrhundert somit auch ein Beispiel für die Funktion schriftlicher und bildlicher Reflexionen als Mittel individueller wie kollektiver Selbstvergewisserung.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
-
Italien als Erlebnis und Vorstellung : Landschaftswahrnehmung deutscher Künstler und Reisender 1760 - 1870. Regensburg : Schnell + Steiner 2015. 978-3-7954-2640-8
Golo Maurer