Pädagogische Erwerbsarbeit im System des lebenslangen Lernens - Berufliche Selbstbeschreibungen und wechselseitige Funktions- und Aufgabenzuschreibungen
Final Report Abstract
Im Gegensatz zu den 1970er und 1980er Jahren, als das lebenslange Lernen aufgrund der damaligen Diskussion über den Fraure Report (vgl. Fraure et al. 1973) und der Internationalisierung des Diskurses zum „lifelong learning“ als genuines Thema der Erwachsenenbildung galt, ist die Formel – zumindest was das Alltagswissen der Praktikerinnen und Praktiker angeht (!) – mittlerweile in alle Segmente des deutschen Bildungssystems eingesickert. Die bereits genannten Zahlen sprechen diesbezüglich eine deutliche Sprache. Zudem konnten sehr weit entwickelten Formen der Zusammenarbeit identifiziert werden: Vertikale Kontakte mit nichtpädagogischen Institutionen sind an der Tagesordnung, ebenso zeichnet sich auch auf horizontaler Ebene ein dichtes Geflecht kooperativer Strukturen ab, so dass eine lebhafte Kooperationskultur konstatiert werden kann, die – und das ist eine überraschende Einsicht – von den Praktikerinnen und Praktikern auch in ähnlicher Weise bewertet wird. Dieses Szenario an positiv auslegbaren Befunden wird angesichts der qualitativen Ergebnisse deutlich relativiert. Einerseits kann bei den individuellen Einstellungen ein hoher Verbreitungsgrad der Formel vom lebenslangen Lernen diagnostiziert werden. Andererseits sagen diese Werte nur wenig über die Qualität der Verankerung im kollektiven Berufswissen aus. Bei der Rekonstruktion des kollektiv geteilten Berufswissens mit dem Verfahren der Gruppendiskussion ist eine deutliche Tendenz hin zur Vereinseitigung festzustellen: Entweder beziehen die Praktikerinnen und Praktiker das lebenslange Lernen nur auf die eigene Kompetenzbiographie (reflexiver Bezug) oder nur auf die der Zielgruppe (transitiver Bezug), ohne die Chance einer dialogischen oder abwägenden Positionierung zu nutzen. Diese Tendenz der Vereinseitigung ist auch bei weiteren Untersuchungsdimensionen sichtbar. So oszillieren die Haltungen der von uns befragten Praktikerinnen und Praktiker zwischen einer extrem kulturkritischen Auffassung und einem betont wirtschaftsnahen Standpunkt, welcher den Aspekt des Humankapitals priorisiert. Des Weiteren ist sowohl eine Überfokussierung zur Seite der alltagsweltlichen Trivialisierung als auch zur postmodernen Ironisierung festzustellen. Zwischen den beiden großen Themenblöcken des Projekts, also der binnenspezifischen und bildungsübergreifenden Kooperation einerseits und der Orientierungskraft des lebenslanges Lernens andererseits, werden von den Befragten in den Gruppendiskussionen nur sehr selten Bezüge hergestellt. Diese Beobachtung ist zunächst einmal irritierend, handelt es sich bei der vertikalen Zusammenarbeit doch schlicht um eine Institutionalisierungsform des lebenslangen Lernens. Diese und andere Befunde deuten darauf hin, dass das lebenslange Lernen von den pädagogischen Praktikerinnen und Praktikern als bloße Wissensform, aber nichts als reale Institutionalisierungsform wahrgenommen wird. Im Alltagswissen ist das lebenslange Lernen – darauf weisen die von uns durchgeführten Gruppendiskussionen eindringlich hin – hochgradig universalisiert. Bildungspolitisch dient es als Einheitsformel und wissenschaftlich als Querschnittsthema, damit unterschiedliche Fachkulturen der Erziehungswissenschaft ins Gespräch kommen können. Die Beobachtung, dass im Berufswissen der von uns untersuchten pädagogisch Erwerbstätigen das lebenslange Lernen in differenzierter Form noch nicht verankert ist, wirft ein bezeichnendes Licht auf die Qualität pädagogischer Ausbildung. Damit macht das PAELL-Projekt auf bisher ungenutzte Potentiale aufmerksam, dem lebenslangen Lernen in den verschiedene Ausbildungsgängen stärkeres Gewicht zu verleihen: In einer historischen Epoche, in welcher sich das Erziehungs- und Bildungswesen als System zu formieren beginnt, können diese Systembildungsprozesse nicht nur über den Lebenslauf als Form und Medium laufen (vgl. Luhmann 1997) und nicht nur durch organisatorische Verdichtungen erfolgen, sondern müssten auch berufspolitisch flankiert werden. Dass sich diesbezüglich ein Fortschritt abzeichnet, liegt im unmittelbaren Handlungs- und Verantwortungsbereich des an universitären Ausbildungsinstitutionen tätigen Personals.
Publications
-
Bildungsbereichsübergreifende Kooperationen.
Wahrnehmungen pädagogischer Akteure.
In: DIE – Zeitschrift für Erwachsenenbildung, Heft 1/2010, S. 31-33.
Schütz, J./Reupold, A.
-
Die Verankerung des Lebenslangen Lernens im
Berufsbewusstsein von Erwachsenenbildern. Erste Ergebnisse einer Analyse von
Gruppendiskussionen mit unterschiedlichen pädagogischen Berufs-gruppen. In:
Hessische Blätter für Volksbildung, Heft 2/2010, S. 136-146.
Nittel, D./Schütz, J.
-
Komparative Berufsgruppenforschung: Pädagogische
Erwerbsarbeit im System des Lebenslangen Lernens. In: Zeitschrift für
Bildungsverwaltung, 1/2010, S. 49-56.
Nittel, D./Schütz, J.
-
Die Orientierungskraft des Lebenslangen Lernens bei Weiterbildnern und Grundschullehrern. Erste Befunde aus dem
Forschungsprojekt PAELL. In: Helsper, Werner/ Tippelt, Rudolf (Hrsg.): Pädagogische Professionalität.
57.Beiheft der Zeitschrift für Pädagogik, S.167-183.
Nittel, D./Schütz, J./Fuchs, S./Tippelt, R
-
Reformoptionen von „unten“. Die Rekonstruktion von beruflichen Selbstbeschreibungen im Elementarbereich mit den Mitteln der Argumentationsanalyse.
In: sozialersinn, Heft 2/2011, 12. Jg.: 367–374
Dellori, C./Nittel, D.
-
Von der Profession zur sozialen Welt pädagogischer Berufsgruppen?
Vorarbeiten zu einer komparativ angelegten Empirie pädagogischer Arbeit. In: Helsper,
Werner/ Tippelt, Rudolf (Hrsg.): Pädagogische Professionalität. 57.Beiheft der Zeitschrift
für Pädagogik 2011, S. 40-59.
Nittel, D.:
-
Die Vielfalt akademischer Professionalisierung in der Erwachsenenbildung. Im Fokus einer komparativen pädagogischen
Berufsgruppenforschung. In: Egetenmeyer, R., Schüßler, I. (Hrsg.): Akademische Professionalisierung in der Erwachsenenbildung /Weiterbildung. 2012 (Grundlagen der Berufs- und Erwachsenenbildung, 70) Hohengehren: Schneider.
Nittel, D./Schütz, J.