Das Leben und die Forschungsarbeit von Gustav Jacobsthal (1845-1912) als Exempel einer alternativen Wissenschaftspraxis im Kaiserreich
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Durch die im Laufe dieses Forschungsprojekts erstellte ideen- und kulturgeschichtlich orientierte Biografie eines nicht mehr kenntlichen Repräsentanten der deutschen Musikwissenschaft des Kaiserreiches ist es möglich geworden, Gustav Jacobsthals musikalisches und wissenschaftliches Profil aus der Verengung zu befreien, in die es durch die Vereinnahmung durch die von Friedrich Ludwig konstituierte Schule geraten war. Jacobsthals durch selbständige Forschungen erworbener musiktheoretischer und -geschichtlicher Horizont ging über jenen der Berliner Vokalschule hinaus, aus der er kam und die ihren hier erstmals aufgezeigten Ausgang bei J. Fr. Reichardt nahm. Jacobsthals Denkstil und seine Forschungsergebnisse lassen sich nicht mit der teils statistisch und statisch klassifizierenden, teils spekulativen Art, in der Ludwig und seine Schüler seit 1900 Phänomene des musikalischen Mittelalters untersuchten, positiv in Beziehung setzen. Noch zu Lebzeiten Jacobsthals waren dessen Auseinandersetzungen jenseits aller Schulbildungen mit Philipp Spitta, Hugo Riemann und den benediktinischen Gregorianikern weitaus wichtiger. Erst der im Rahmen eines Vorläuferprojekts teilweise gehobene und edierte gewaltige Nachlass konnte das Ausmaß der Jacobsthalschen Forschungsresultate deutlich machen. Auf dieser Textbasis konnte nun in der Biografie ein umfassendes chronologisch-thematisches Gesamtbild dieses Gelehrten und Musikers gegeben werden durch darstellende, kommentierende und mit umfangreichen Quellenzitaten gestützte Hinweise auf das familiäre Umfeld (inkl. der Auseinandersetzung mit seiner jüdischen Herkunft und der von ihm versuchten Assimilation an die christliche deutsche Mehrheitskultur) und das akademische Feld, in dem er sich zeitlebens bewegte, wobei besonders bedacht sind: seine frühe Prägung in Stettin durch Carl Loewe in musikalischen und durch Hermann Grassmann in physikalisch-mathematischen Dingen, des Weiteren in Berlin durch Eduard Grell und Heinrich Bellermann in musikalischen und durch Philipp Jaffé in historischen Dingen, seine Dissertationsschrift über die Mensuralnotation des 12. und 13. Jahrhunderts und das Berliner Promotionsverfahren, seine Studien in Wien über Hermann von Reichenau, mit denen er sich in Straßburg habilitierte, und seine dort beginnende Freundschaft mit dem Germanisten Wilhelm Scherer, seine zeitbedingte Einbindung in die zweite preußisch-deutsche Universitätsreform unter imperialen Zielsetzungen, deren Effektivitätsdruck er sich widersetzte, seine Konstitution eines Universitätsfachs Musik mit technischen und wissenschaftlichen Zielsetzungen, seine multidisziplinären Anregungen und Kontakte in Straßburg, seine Art der Leitung des Akademischen, sowie zeitweilig auch des Städtischen Gesangvereins, seine redaktionelle und freie Mitarbeit in Zeitschriften, seine Pläne für kritische Editionen mittelalterlicher Quellen, seine einjährige europäische Bibliotheksreise, seine geplanten Berufungen nach Bonn, Wien und Berlin. Großes Gewicht wurde auf seine erkenntnistheoretischen Grundlagen und seine Methodik gelegt, die als empirisch und skeptisch zu bezeichnen sind. Seine großen und kleinen Themen, seine vollendeten und fragmentarisch hinterlassenen Forschungen werden hier teils detailliert, teils summarisch dargestellt: das Chroma im Choral, Unpubliziertes zur Operngeschichte, die Varianten früher Mehrstimmigkeit im frühen Motettenrepertoire, der Trobadors-Komplex, der weltliche Palestrina, Bachs Choralbearbeitungen im Vorfeld von Albert Schweitzers Bach-Buch. Es wird versucht, eine medizinische Erklärung seiner späten, weitere Forschungen verhindernden Krankheit zum Tode zu geben und ein ungefähres Korpus seiner Kompositionen zu beschreiben. Schließlich wird der Irrungen und Wirrungen der Nachwelt gedacht. Ein Quellenteil, einen qualifiziertes Personenregister und eine umfangreiche Bibliografie schließen die Biografie ab. Im Resultat macht diese Biografie klar, dass Jacobsthal einen eigenständigen Weg ging, der, wenn überhaupt, dann in Hinsicht darauf Schule machen könnte, dass eine Pluralität künstlerischer und wissenschaftlicher Verfahrensweisen zu akzeptieren wäre.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- Kontrapunktische Kindheit der Musikgeschichte - Adolf Bernhard Marx' geschichtsphilosophische These vom notwendigen Ende des Kontrapunkts nach Bach, in: Musik-Konzepte Sonderband „Philosophie des Kontrapunkts", München 2010, S. 49-59
Peter Sühring
- „Lupe und Ohr". Die am Straßburger Institut von 1872 bis 1905 von Gustav Jacobsthal etablierte Wissenschaftskultur und ihre verborgene Vorläuferrolle für historisierende Aufführungen älterer Musik, in: Basler Jahrbuch für historische Musikpraxis 2008, Winterthur 2010. S. 133-144
Peter Sühring
- Rechnen und Empfinden - Rationalität und Phantasie in der Musikanalyse. Über einige von Hermann Graßmann herrührende mathematisch-physikalische Elemente in der Methodik Gustav Jacobsthals, MusikTheorie 25 (2011), S. 235-244
Peter Sühring
- Von der Hörigkeit der Instrumente. Eduard Grell und Gustav Jacobsthal in: Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Berlin PK 2011, Mainz 2011, S. 105-124
Peter Sühring
- Gustav Jacobsthal - ein Musikologe im deutschen Kaiserreich. Musik inmitten von Natur, Geschichte und Sprache. Eine Ideen- und kulturgeschichtliche Biografie mit Dokumenten und Briefen, Hildesheim 2012
Peter Sühring