Vom Samentierchen zur Spermientechnologie: Eine Kulturgeschichte des Spermas, 1776-1945
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Das Projekt verfolgte auf einer praxisbezogenen sowie begriffshistorischen Ebene die Geschichte des Spermas von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Während die meisten Naturforscher des 18. Jahrhunderts die mikroskopischen Tiere des Samens als Parasiten des menschlichen Körpers betrachteten, deuteten die Physiologen sie im Verlauf des 19. Jahrhunderts schrittweise zu Zellen und Trägern der väterlichen Vererbungsmaterie um. Anhand der Analyse dieser Entwicklung ließ sich aufzeigen, dass der Wandel vom Samentier zur Samenzelle mit der Entstehung einer neuen Auffassung der Zeugung, der Vererbung, des geschlechtlichen Körpers und 'des Lebens' selbst verbunden war. Ein überraschendes Ergebnis des Projekts war, dass die 'vormoderne' naturhistorische Betrachtungsweise der Spermien als Lebewesen und Tiere niemals ganz verschwand. Vielmehr ging sie in veränderter Form in die Neudeutung der Spermien als zelluläre Einheiten ein. Diese Kontinuität zu untersuchen und nach ihren Implikationen für die Herausbildung neuer medizinischen und biopolitischen Technologien zu fragen, war ein zentrales Anliegen dieser Studie. Besonderes Augenmerk wurde dabei dem Einfluss der Eugenik und der Biopolitik des NS-Regimes geschenkt. Es konnte gezeigt werden, dass im 20. Jahrhundert nicht nur auf der Ebene der Bevölkerung und des Individualkörpers, sondern auch auf der Ebene der Keimzellen versucht wurde, Gesundheits- und Rassenpolitik zu betreiben. Insgesamt legen die Ergebnisse dieser Studie dar, dass die Objekte und Praktiken der heutigen Reproduktionsmedizin eine vielfältigere und längere Geschichte haben als gewöhnlich angenommen. Die Geschichte des Spermas als eines bis bislang wenig beachteten Schlüsselobjekts der Biologie und Medizin eröffnet neue Perspektiven auf wesentliche kulturelle und politische Veränderungen der Moderne, insbesondere hinsichtlich der Deutung des Geschlechterverhältnisses.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
-
„Vom Samentier zur Samenzelle: die Neudeutung der Zeugung im 19. Jahrhundert.“ Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, 32 (2009), S. 215-229
Florence Vienne
-
„Spermatozoen“. In: Abteilung III des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte (Hg.). Eine Naturgeschichte für das 21. Jahrhundert. Zu Ehren von Hans-Jörg Rheinberger. Berlin, Max- Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, 2011, S. 145-147 + Abbildung S. 99
Florence Vienne
-
„Organic Molecules, Parasites, 'Urthiere': The Contested Nature of Spermatic Animalcules, 1749- 1841“, in: Susanne Lettow (ed.). Reproduction, Race and Gender in Philosophy and the Early Life Sciences. Albany, SUNY Press. - ISBN13: 978-1-4384-4949-4
Florence Vienne