Leipzig und die Internationalisierung der Symphonik.Untersuchungen zu Präsenz und Rezeption 'ausländischer' Orchesterwerke im Leipziger Musikleben 1835-1914
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Mit dem Projekt wurde ein repertoire- und rezeptionsgeschichtlicher Beitrag zur Erforschung der symphonischen Gattungen im Zeitalter des Nationalismus aus einer spezifisch städtischen Perspektive geleistet. Den Ausgangspunkt bildete die gängige, aus dem heutigen Werkkanon abgeleitete Annahme, dass es im späten 19. Jahrhundert wieder zu einer Internationalisierung der symphonischen Orchestermusik kam, nachdem diese zuvor, seit der Kanonisierung des Modells der Wiener Klassik, primär von Werken deutschsprachiger Komponisten bestimmt worden war. Diese Hypothese am Beispiel Leipzigs zu überprüfen, bot sich besonders an wegen der Vorbildfunktion dieser „Musikstadt“ bei der Entwicklung des bürgerlichen Symphoniekonzerts und seines Werkkanons, wegen ihrer kontinuierlichen und gut dokumentierten Konzerttradition sowie der internationalen Ausrichtung ihrer Institutionen (Konservatorium, Musikverlage, Gewandhaus). Die Internationalisierungsthese wurde sowohl quantitativ als auch qualitativ überprüft: 1. durch eine statistische Auswertung des Leipziger Konzert- und Verlagsrepertoires und seines Kontextes (u.a. der erhaltenen Korrespondenz der Institutionen); 2. durch eine inhaltliche Analyse der Besprechungen von Leipziger Erstdrucken und Aufführungen symphonischer Werke ‚ausländischer‘ Komponisten in der örtlichen Fach- und Tagespresse. Es konnte gezeigt werden, dass der internationale Anteil am Symphonik-Repertoire im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts tatsächlich zunahm. Allerdings fiel das Wachstum bei den Aufführungen geringer und weniger geradlinig als erwartet aus. Auch handelte es sich bei den präferierten Werken z.T. um andere als die des heutigen Kanons (zunächst mehr Skandinavier). Höher als in den Konzerten lag der internationale Anteil beim Verlagsrepertoire. Dies erklärt sich daraus, dass die Leipziger Verlage zunehmend für den Weltmarkt produzierten. Im Gegenzug sank ihr Einfluss auf die Konzertprogramme am Gewandhaus. Bei stetigem Wachstum und gleichzeitiger Differenzierung sowie Professionalisierung des Leipziger Musikbetriebs kam es somit zu einer partiellen Entflechtung seiner verschiedenen Teilsysteme. Der Internationalisierungsprozess wurde in der Presse durchaus wahrgenommen, ohne jedoch im Zentrum des Diskurses zu stehen. Er vollzog sich eher im Hintergrund infolge der internationalen Bedeutung der Musikstadt Leipzig, die viele ausländische Musiker anzog. Die Beurteilung dieses Prozesses wie auch der einzelnen Werke hing vor allem von der ästhetischen Position der Periodika und der einzelnen Kritiker ab. Gab es anfangs mehr Sympathie für ‚nationale‘ Tendenzen in der sog. Fortschrittspartei, während die Konservativen diesen Aspekt ignorierten, so kehrte sich das Verhältnis später um: ‚Nationale‘, folkloristische Elemente galten den einen als heilsames Gegenmittel zur Moderne, den anderen hingegen als regressives, ‚primitives‘ Moment. Obwohl der ‚nationale‘ Faktor in der Leipziger Musikpresse wachsende Beachtung fand, blieben politische Aspekte generell im Hintergrund gegenüber ästhetischen Kriterien. Das Haupthindernis für eine unvoreingenommene Rezeption neuer internationaler Orchesterwerke bildete die Befangenheit in den klassizistischen Wertkategorien der Leipziger Tradition. So wurden vor allem solche Werke (u.a. von Gade, Rubinstein, Tschaikowsky) willkommen geheißen, die diese Tradition zu bestätigen schienen.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- „Ausarbeitung vs. Erfindung oder: Thematische Arbeit als nationales Qualitätskriterium? Zum Symphonik-Diskurs in der Leipziger Musikpresse des ‚langen 19. Jahrhunderts“, in: Motivischthematische Arbeit als Inbegriff der Musik? Zur Geschichte und Problematik eines ‚deutschen‘ Musikdiskurses, Kongressbericht Göttingen 2012, hrsg. von Stefan Keym, Hildesheim 2015, S. 83- 107
Stefan Keym
- „Germanozentrik vs. Internationalisierung? Zum Werk- und Deutungskanon des ‘zweiten Zeitalters der Symphonie’“, in: Der Kanon der Musik. Theorie und Geschichte. Ein Handbuch, hrsg. von Klaus Pietschmann u.a., München 2013, S. 482-517
Stefan Keym
- „Eine ‚deutsche Gattung‘? Zum Verhältnis von Symphonie und Nationalität im Leipziger Konzertrepertoire und Musikdiskurs 1835-1914“, in: Inklusion & Exklusion. ‚Deutsche‘ Musik in Europa und Nordamerika 1848-1945, Kongressbericht Düsseldorf 2012, hrsg. von Sabine Mecking u.a., Göttingen 2015, S. 41-63
Stefan Keym
- ‘Sich mit jedem Tact mehr zu verwundern, und doch mehr zu Haus zu fühlen.‘ Zur Re-Internationalisierung der Symphonik im Leipziger Konzertrepertoire des langen 19. Jahrhunderts. Die Musikforschung, Jg. 69. 2016, H. 4, S. 318-344.
Stefan Keym
- „‘Für den Verleger gerade die misslichste Gattung‘. Zum Symphonik-Repertoire der Leipziger Musikverlage und seiner Re-Internationalisierung im ‚langen‘ 19. Jahrhundert“, in: Das Leipziger Musikverlagswesen. Innerstädtische Netzwerke und internationale Ausstrahlung, Kongressbericht Leipzig 2013, hrsg. von Stefan Keym und Peter Schmitz, Hildesheim 2016, S. 291-328
Stefan Keym
- Auffrischung oder Abweichung von der Tradition? Präsenz und Wahrnehmung russischer Symphonik in Leipzig bis 1914. In: Russische Musik in Westeuropa bis 1917. Ideen – Funktionen – Transfers, Kongressbericht Zürich 2014, hrsg. von Inga Mai Groote und Stefan Keym, 2018, S. 73-111
Stefan Keym
- À la recherche des ‘luttes fécondes avec l’art étranger‘? Les compositeurs symphoniques français et l’Allemagne, 1870-1914. In: Veilles de guerre: Précurseurs politiques et culturels de la Grande guerre, hrsg. von Fritz Taubert, Vincent Chambarlhac u.a., Villeneuve d’Ascq 2018, S. 71-88.
Stefan Keym
- Komplementarität und Pluralisierung. Zur ‚zweiten Säule‘ der
Leipziger Symphoniekonzerte im langen 19. Jahrhundert und ihrem
Repertoire. In: Musikstadt Leipzig. Beiträge zu ihrer Geschichte,
hrsg. von Helmut Loos, Leipzig 2019, S. 143-177.
Stefan Keym