Rationalisierung der Krankenpflege in Westdeutschland und den USA, 1945 bis Anfang der 1970er Jahre. Eine Vergleichs- und Transfergeschichte
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Das Projekt untersucht die Rationalisierung der Krankenpflege in den USA und Westdeutschland nach 1945 anhand von zwei unterschiedlichen Pflegetraditionen: dem christlichen und dem zweckrationell-instrumentellen Pflegemodell. Im Mittelpunkt der Analyse stehen zum einen die protestantischen Diakonissenmutterhäuser – eine deutsche Pflegeorganisation, die im 19. Jahrhundert in die USA exportiert wurde. Zum anderen werden die Vorreiterinnen einer Akademisierung der Pflege analysiert. Das akademische Pflegemodell in Westdeutschland wurde entscheidend durch die USA geprägt. Das in Deutschland hochgradig erfolgreiche Modell des Diakonissenmutterhauses konnte nur sehr bedingt in den US-amerikanischen Kontext transferiert werden. Das Lebensmodell der Diakonisse stieß in den USA auf wenig Zustimmung, und das protestantische Pflegeverständnis der Einheit aus Leibes- und Seelenpflege konnte sich in den USA Anfang des 20. Jahrhunderts nicht gegen die Dominanz des biomedizinischen Krankheitsverständnisses behaupten. Nach 1945 teilte das dortige Diakonissenmutterhaus die wesentliche Grundannahme, dass ein Mehr an Verwissenschaftlichung und Standardarisierung im Ergebnis auch eine bessere Pflege hervorbringe. Umgekehrt zeigt der Versuch, das US-amerikanische Modell professioneller Pflege an der Universität Heidelberg zu etablieren, dass ein wissenschaftsorientiertes Pflegeverständnis im westdeutschen, christlich dominierten Pflegekontext der 1950er Jahre auf massive Widerstände stieß, nicht weil die Schwestern so ‚rückständig’ waren, sondern weil sie mit ihrem Konzept von Erfahrungswissen und ethischer Bildung einem anderen Wissenstypus die Priorität gaben. Dies änderte sich ab der zweiten Hälfte der 1950er Jahre, als sich – bedingt u. a. durch den „Schwesternmangel“ – moderne Konzepte wissenschaftlich begründeten, zielgerichtet-effizienten Handelns auch im westdeutschen Pflegekontext durchsetzten. Die Ergebnisse des Projektes zeigen, dass die „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ (Raphael) Frauen und Männer in sehr unterschiedlicher Weise traf, weil Frauen vor allem in personenbezogenen, fürsorgenden Tätigkeitsbereichen arbeiten, in denen intuitive, nicht formalisierbare Wissensformen eine wichtige Rolle spielen. Dies gilt in besonderer Weise für den Pflegebereich, weil Pflegende in ihren Verstehensleistungen aufgrund des starken Körper- und Leibbezugs zum erkrankten Gegenüber in hohem Maße auf implizite, nicht kognitiv-rational erklärbare Wissensformen zurückgreifen, die mit der Verwissenschaftlichung der Krankenversorgung ihre Aussagekraft einbüßten. Der Pflegebereich ist deshalb besonders geeignet, die Problematik von Verwissenschaftlichungsprozessen zu beleuchten.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Rationalisierung evangelischer Krankenpflege. Westdeutsche und US- amerikanische Diakonissenmutterhäuser im Vergleich, 1945–1970, in: Medizinhistorisches Journal, Vol. 47 (2012), S. 221–243
Kreutzer, Susanne
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Conflicting Christian and Scientific Nursing Concepts in West Germany, 1945–1970, in: D’Antonio, Patricia/Julie A. Fairman/Jean C. Whelan (Hg.), Routledge Handbook on the Global History of Nursing. London/New York 2013, S. 151–164
Kreutzer, Susanne
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„Hollywood Nurses“ in West Germany. Biographies, Self-Images, and Experiences of Academically Trained Nurses after 1945, in: Nursing History Review, Jg. 21 (2013), S. 33–54
Kreutzer, Susanne
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Deaconesses in Nursing Care – International Transfer of a Female Model of Life and Work in the 19th and 20th Century (= Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beihef 62) Franz Steiner Verlag: Stuttgart (2016)
Kreutzer, Susanne/Karen Nolte (Hg)
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How to meet the needs of the Church. On the History of Deaconesses in the Lutheran Motherhouse in Baltimore, Maryland, USA in the 20th Century, in: Kreutzer, Susanne/Karen Nolte (Hg), Deaconesses in Nursing Care – International Transfer of a Female Model of Life and Work in the 19th and 20th Century. Franz Steiner Verlag: Stuttgart (2016). S. 185 ff.
Riemann, Doris