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Mehrheit oder Minderheit? Identitätskonstruktionen im sprachpolitischen und -rechtlichen Diskurs russisch-türksprachiger Sprachgemeinschaften

Fachliche Zuordnung Öffentliches Recht
Europäische und Amerikanische Literatur- und Kulturwissenschaften
Islamwissenschaft, Arabistik, Semitistik
Förderung Förderung von 2009 bis 2015
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 129883465
 
Erstellungsjahr 2014

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Am Beispiel von zwei russisch-türksprachigen Sprachgemeinschaften, Tatarstan (Russische Föderation) und Kasachstan, untersuchte das interdisziplinäre slavistisch-turkologische Projekt die Prozesse der Konstruktion von ethnischen und nationalen Identitäten sowie die Rolle der Sprachen als deren konstitutivem Bestandteil. Durch den Vergleich der beiden untersuchten Regionen konnte gezeigt werden, dass die Identitätsbildungsprozesse von den politischen, sozialen und kulturellen Bedingungen sowie in besonderem Maße von den Spracheinstellungen der Sprachgemeinschaften abhängig sind. So konnten – bei einer vergleichbaren soziokulturellen Ausgangssituation in den 1990er Jahren – gegenwärtig z. T. unterschiedliche Tendenzen in den Vergleichsregionen festgestellt werden. Das Projekt beleuchtete dabei sowohl ethnische als auch supra-ethnische und nationale Identitäten. Die Identitätsbildungsprozesse wurden auf der Grundlage folgender Bereiche der Sprachenpolitik analysiert: Sprachstatus, Sprachprestige und Spracherwerb. Ausgehend von der Annahme, dass die Identitätskonstruktionen und die Sprachrealität im öffentlichen Diskurs ablesbar sind, wurde im Projekt im Sinne der Datentriangulation ein umfangreiches Untersuchungskorpus zusammengestellt und analysiert. Das Korpus umfasste eine reichhaltige Datenbank mit Forschungsliteratur, ein umfangreiches Korpus aus Schlüsseltexten, in denen Identitäts- und Sprachenfragen thematisiert wurden, sowie insgesamt 76 soziolinguistische Interviews mit 104 Informanten, die im Rahmen von Forschungsaufenthalten in Tatarstan und Kasachstan mit gesellschaftlichen Akteuren geführt wurden. Das Analyseinstrumentarium für die Untersuchung beruhte auf den Grundlagen der Diskursanalyse. Das gesamte Datenkorpus ist als Ausschnitt aus dem öffentlichen Sprach- und Identitätsdiskurs zu betrachten und kann als Grundlage für weiterführende Untersuchungen dienen, etwa zu Analysen, in deren Rahmen die zukünftige Entwicklung mit dem im Rahmen des Projekts untersuchten Zustand verglichen werden soll. Die Projektergebnisse zeigen, dass trotz intensiver politischer Förderung der jeweiligen Titularsprachen in beiden Republiken die jeweiligen Identitätsbildungsprozesse dadurch geprägt und z. T. eingeschränkt werden, dass auch weiterhin eine Diskrepanz herrscht zwischen dem gesetzlich festgelegten Sprachstatus einerseits und dem in Teilen der Bevölkerung wahrgenommenen Sprachprestige sowie der Verbreitung der Titularsprachen im Alltags- und Berufsleben andererseits. Auch Probleme, die mit dem Spracherwerb des Kasachischen bzw. Tatarischen (hauptsächlich unter Angehörigen anderer Ethnien, z. T. jedoch auch unter Angehörigen der Titularethnie) verbunden sind, werden in der öffentlichen Debatte im Zusammenhang mit sprachpolitischen Fragen thematisiert und durchaus kontrovers diskutiert. Dies gilt ebenso für die Rolle der Sprachen in Zusammenhang mit Prozessen der Identitätsbildung, sowohl in Bezug auf ethnische als auch auf supraethnische Zugehörigkeit, wie dies bei der Konstruktion der kasachischen Sprache der Fall ist, die in offiziellen sprachpolitischen Dokumenten, etwa dem Sprachenprogramm der Republik Kasachstan für die Jahre 2011–2020, als „Sprache aller Einwohner Kasachstans“ und „einigende Kraft“ konstruiert wird. Der Dominanz im Hinblick auf die politische Rolle, den Sprachstatus und den anvisierten Spracherwerb der Titularsprachen steht bisher immer noch eine Dominanz des Russischen bezüglich des wahrgenommenen Sprachprestiges und der Sprachverbreitung im untersuchten Diskurs gegenüber. Beide russisch-türksprachigen Sprachgemeinschaften zeigen so ein verkehrtes Verhältnis in Bezug auf „Mehrheit“ und „Minderheit“. Tatarstans Möglichkeiten sind begrenzt durch die Tatsache, dass die Grundlinien der Politik durch die Gesetzgebung der Russischen Föderation vorgegeben werden; Kasachstan hat jedoch durch die Eigenstaatlichkeit in den letzten Jahren bereits in Teilen eine andere Entwicklung genommen, so dass abzuwarten bleibt, wie sich die Situation in Zukunft darstellen wird.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • (2012), „Russifizierung“ in der Tatarischen ASSR. In: Zaur Gasimov (ed.): Kampf um Wort und Schrift. Russifizierung in Osteuropa im 19.–20. Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 141–162
    Bartholomä, R.
  • (2013), Language Policy and Linguistic Reality of the Mari in the Republics of Mari El, Tatarstan, and Bashkortostan (Russian Federation). In: Finnisch-Ugrische Mitteilungen, Jahrgang 2012, 36, 1–39
    Bartholomä, R. / Schötschel, M.
  • (2013), Sprachenpolitik in der Russischen Föderation aus der Sicht der Republiken. Am Beispiel der Wolgaregion. In: Kempgen, S. / Wingender, M. / Franz, N. / Jakisa, M. (eds.), Deutsche Beiträge zum 15. Internationalen Slavistenkongress Minsk 2013, München 2013, 325-334
    Wingender, M.
  • (2013), Изучение современного татарского литературного языка как иностранного в вузах Германии. Филология и культура – Philology and Culture. 33/3, 268-271
    Бартоломэ, Р./Bartholomä, R.
  • (2014), Противоборство языковой политики и языковой действительности в странах СНГ (сравнение русско-тюркских языковых сообществ Татарстана и Казахстана). В: Актуальные этноязыковые и этнокультурные проблемы современности, книга I, отв.ред. Г.П. Нещименко, Москва 2014, 237-257
    Wingender, M.
  • Between “Duty” and “Prestige”: The Kazakh Language in the Discourse of Contemporary Kazakhstan. In: Mukhamedova, R. (ed.), Kazakh in Post-Soviet Kazakhstan. Proceedings of the International Symposium on Kazakh, November 30 – December 2, 2011, Giessen. Wiesbaden: Harrassowitz 2015
    Bartholomä, R.
  • Kazakhstan and Tatarstan – Building Identities in Russian-Turkic Speech Communities. In: Mukhamedova, R. (ed.), Kazakh in Post-Soviet Kazakhstan. Proceedings of the International Symposium on Kazakh, November 30 – December 2, 2011, Giessen. Wiesbaden: Harrassowitz 2015. 978-3-447-10440-1
    Braun, A. / Wingender, M.
  • Sprachpolitische Diskurse in russisch-türksprachigen Sprachgemeinschaften. Sprachen und Identitäten in Tatarstan und Kasachstan. Wiesbaden: Harrassowitz, 2015. (= Interdisziplinäre Studien zum östlichen Europa 1). 293 pp, ISBN: 978-3-447-10380-0.
    Kirchner, Mark; Wingender, Monika
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1515/kl-2017-0015)
  • The Construction of a Tatar Nation in the Debate about the Introduction of a Latin Script in the Republic of Tatarstan, S. 169-198. In: E. S. Ahn / J. Smagulova (eds.), Language Change in Central Asia, Berlin u. a.: de Gruyter, 2016
    Bartholomä, R.
 
 

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