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Siedlungsbestattungen der Hallstatt- und Frühlatènezeit in Süddeutschland: zum ältereisenzeitlichen Umgang mit den Toten

Fachliche Zuordnung Ur- und Frühgeschichte (weltweit)
Förderung Förderung von 2009 bis 2014
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 136499105
 
Erstellungsjahr 2020

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Das Projekt verfolgte als grundlegendes Ziel die Klärung der verschiedenen, in der Literatur zirkulierenden Interpretationsalternativen zu den Sied-lungs- und Höhlenbestattungen der älteren Eisenzeit: Handelte es sich bei ihnen um einen Teil der ,normalen‘, in den Gräberfeldern bestatteten Bevölkerung, die aufgrund bestimmter Begleitumstände abseits der Gräberfelder deponiert wurde oder fassen wir mit ihnen einen ansonsten nicht repräsentierten, dem Erscheinungsbild nach unterprivilegierten Bevölkerungsteil? Insgesamt wurden 159 mehr oder vollständige Skeletten erfasst, die im Arbeitsgebiet Baden-Württemberg und Bayern aus ältereisenzeitlichen Siedlungskontexten geborgen worden sind. 115 Individuen sowie 43 Einzelknochen wurden anthropologisch neu begutachtet. 203 Individuen - 23 tierische und 180 menschliche (inkl. Vergleichsindividuen) - wurden in Hinsicht auf die Gehalte an 87Sr/86Sr aus Zahnschmelz bei Menschen bzw. Knochen bei Tieren, S18O und S13C aus Karbonat sowie δ18C und δ15N aus Kollagen beprobt. Für das Projekt zentral waren neben der archäologischen Datenerhebung und -analyse detaillierte anthropologische Untersuchungen, die außer den anthropologischen Basisdaten (Geschlecht, Alter, Pathologien) Analysen stabiler Isotopen generierten: Strontium und Sauerstoff erlauben Aussagen zu eventuellen Verlagerungen des Lebensortes und Stickstoff und Kohlenstoff zur Ernährung. Bei der interdisziplinären Auswertung aller Daten zeigte sich, dass keiner der bisher vorgebrachten Interpretationen - extrinsische Motive wie Opferhandlungen oder mehrstufige Bestattungsriten oder intrinsische wie eine negative soziale Auslese - die archäologischen und anthropologischen Daten und Beobachtungen allerdings zufriedenstellend erklären kann. Deshalb wird hier einer multikausalen Interpretation der Vorzug gegeben. Wahrscheinlich wurden die Toten als nicht geeignet angesehen, auf ,regulären‘ Bestattungsplätzen bestattet zu werden, wobei die spezifischen Gründe dafür unterschiedlich gewesen sind. Vermutlich spielte das Sterbealter eine große Bedeutung. Besonders auffällig ist dies bei den Neugeborenen, deren hohe Zahl bei den Bestattungen aus Siedlungs- oder Höhlenkontexten oben betont wurde. In jüngeren römischen Quellen wird eine mögliche Erklärung dafür geliefert: Bevor nicht der erste Zahn durchgebrochen war, wurden Kleinkinder noch nicht als vollwertige soziale Personen angesehen. Es scheint wahrscheinlich, dass eine ähnliche Interpretation auch für die ältereisenzeitlichen Neugeborenen gilt. Hier erhält man auch einen ersten Ansatzpunkt, um die Deponierung abseits ,regulärer‘ Bestattungsplätze als vermutlich eher negativ konnotiert zu werten. Auch besondere Todesumstände kommen als Gründe für die Sonderbehandlung infrage. Soweit es sich um bestimmte Todesarten wie Ertrinken oder Tod durch Blitzschläge gehandelt hat, ist dies archäologisch vermutlich nur schwer nachzuweisen. Eine gemeinsame Todesursache wie etwa eine schwere ansteckende Krankheit drängt sich allerdings im Falle der Gruben mit mehreren, offenbar mehr oder weniger gleichzeitig deponierten Individuen auf, wobei die Niederlegung abseits der ,regulären‘ Gräber vielleicht weiteres Unheil abwenden sollte. In vielen Gesellschaften sind jedoch auch früh oder kinderlos Verstorbene eine problematische Kategorie. In diesem Zusammenhang ist die hohe Zahl an Jugendlichen auffällig; zu den Auffälligkeiten zählt auch, dass über Vertretern dieser Altersgruppe besonders häufig größere Steine oder Steinpackungen aufgehäuft wurden. Da in mehreren Fällen gezielt der Schädel getroffen wurde, scheint diese Maßnahme ebenfalls negativ konnotiert gewesen zu sein. Möglicherweise galt der Tod dieser Jugendlichen, die auf der Schwelle standen, vollwertige Mitglieder ihrer Gemeinschaft zu werden, als besonders unheilvoll, was spezielle Gegenmaßnahmen erforderlich machte. Neben diesen Gründen muss aber auch die soziale Position des Individuums durchaus eine große Rolle gespielt haben. Dies zeigt sich sowohl an der Ausstattung der Individuen mit sehr einfachem Schmuck, der häufig starke Gebrauchsspuren aufweist, wie auch an den stabilen Isotopen. Letztere deuten auf eine tierfettärmere Ernährung und eine überregional weniger stark vernetzte Herkunft hin als bei Individuen aus ,regulären‘ Gräbern. Auch der höhere Anteil an älteren Individuen bei den Siedlungsbestattungen im Vergleich zu ,regulären‘ Bestattungen ist so zu deuten, da offenbar nur relativ wenige Individuen die Möglichkeit hatten, ihre soziale Position im Übergang von der adulten zur maturen Altersklasse zu halten oder gar zu steigern. Konkret bedeutet dies, dass mit einer geringeren sozialen Stellung auch die Wahrscheinlichkeit stieg, abseits der ,regulären‘ Gräberfelder deponiert zu werden. In der vermutlich auch noch situationsabhängigen Wertung der Bestattungsgemeinschaft wurde für jeden einzelnen Toten entschieden, ob aufgrund der Todesumstände und der ererbten oder erarbeiteten sozialen Position des oder der Toten eine Bestattung auf dem Gräberfeld infrage kam oder nicht.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • Ältereisenzeitliche Siedlungsbestattungen in Baden-Württemberg und Bayern. In: N. Müller-Scheeßel (Hrsg.), ‚Irreguläre‘ Bestattungen in der Urgeschichte: Norm, Ritual, Strafe …? Akten der Internationalen Tagung in Frankfurt a. M. vom 3. bis 5. Februar 2012. Koll. Vor- u. Frühgesch. 19 (Bonn 2013) 409–424
    N. Müller-Scheeßel / C. Berszin / G. Grupe / A. Schwentke / A. Staskiewicz / J. Wahl
  • Im Tode gleich? Eisenzeitliche Bestattungen von Frauen und Männern in Siedlungskontexten und in ‚regulären‘ Gräbern im Vergleich. In: S. Wefers et al. (Hrsg.), Bilder – Räume – Rollen: Beiträge zur gemeinsamen Sitzung der AG Eisenzeit und der AG Geschlechterforschung während des 7. Deutschen Archäologenkongresses in Bremen 2011. Beitr. Ur- u. Frühgesch. Mitteleuropa 72 (Langenweißbach 2013) 81–92
    N. Müller-Scheeßel
  • In der Obhut von Verwandten? Die Zirkulation von Kindern und Jugendlichen in der Eisenzeit Mitteleuropas. In: R. Karl / J. Leskovar (Hrsg.), Interpretierte Eisenzeiten: Fallstudien, Methoden, Theorie. Tagungsbeiträge der 6. Linzer Gespräche zur interpretativen Eisenzeitarchäologie. Stud. Kulturgesch. Oberösterreich 42 (Linz 2015) 9–23
    N. Müller-Scheeßel / G. Grupe / T. Tütken
  • „Entwarnung“ in Unterpleichfeld: naturwissenschaftliche Untersuchungen an Skeletten aus der frühlatènezeitlichen Siedlung. Denkmalpflege-Informationen 161, 2015, 37–39
    N. Müller-Scheeßel / F. Maixner / S. Schein / A. Zink / G. Grupe
  • The dead of the Dietersberg Cave, Germany: new insights into burial practices of the Iron Age from 14C-dates and stable isotope (C, N, O, Sr) analyses of human bones and teeth. Arch. and Anthr. Scien. 12, 2020
    N. Müller-Scheeßel / G. Grupe / B. Mühldorfer / T. Tütken
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1007/s12520-020-01025-1)
  • What Is the Norm? ‚Irregular‘ and ‚Regular‘ Burial Practices of the Early Iron Age in Central Europe. In: T. K. Betsinger / A. B. Scott / A. Tsaliki (Hrsg.), The Odd, the Unusual, and the Strange: Bioarchaeological Explorations of Atypical Burials. Bioarchaeological Interpretations of the Human Past: Local Regional and Global Perspectives 19 (Gainesville 2020) 170–189
    N. Müller-Scheeßel / C. Berszin / G. Grupe / A. Schwentke / A. Staskiewicz / J. Wahl
    (Siehe online unter https://dx.doi.org/10.5744/florida/9781683401032.003.0009)
 
 

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