Wissenschaftshistorische Erschließung frühneuzeitlicher Dissertationen zur Rhetorik, Poetik und Ästhetik aus den Universitäten des Alten Reiches (Repertorium)
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Die lateinischen ,dissertationes', wie sie vom 16. bis zum 18. Jahrhundert an den Universitäten und anderen Hohen Schulen des Alten Reiches verfasst und als Grundlage akademischer Disputationen genutzt wurden, unterscheiden sich in mancherlei Hinsicht von den Inauguraldissertationen neueren Zuschnitts. Das gelegentlich geäußerte Vorurteil, diese schmalen Drucke transportierten nur abfragbares Schulwissen und seien Zeugnisse des sterilen und geistfeindlichen Ausbildungsbetriebs vormoderner Epochen, ist gleichwohl nicht zutreffend. Vielmehr bilden die Thesendrucke – gerade auch in ihrer materiellen Form und polyphonen Struktur – anschauliches Material für bildungs- und institutionengeschichtliche Studien auch in avanciertem kulturwissenschaftlichem Zugriff. Darüber hinaus eignen sie sich hervorragend für wissenschaftshistorische Untersuchungen, gleich ob man sich für die disziplinäre Entwicklung einzelner Fächer und deren objektivierbare ‚Fortschritte’ interessiert oder aus diskursanalytischer Perspektive Möglichkeiten und Grenzen gelehrter Verständigung auslotet. Das Forschungsprojekt hat sich zum Ziel gesetzt, speziell die Dissertationen aus den Bereichen Rhetorik, Poetik und Ästhetik zu ermitteln und in repräsentativen Einzelfällen näher zu erschließen. Zu diesem Zwecke wurden aus einem Fundus von rund 1000 infrage kommenden Quellentexten nach Maßgabe eines angemessenen regionalen, personellen, strukturellen und thematischen Proporzes etwa 75 Stücke ausgewählt, die in analog strukturierten, recht ausführlichen Repertoriumseinträgen zu präsentieren waren. Eingehende Erläuterungen wurden jeweils zur Überlieferung der Quellen, zur Karriere der beteiligten Akteure, zur Struktur der Dissertation (mit Einbezug der oft zahlreichen Paratexte), zum Argumentationsgang, zur wissens- und diskursgeschichtlichen Verortung, zur zeitgenössischen Rezeption und zu den herangezogenen Referenztexten gegeben. Die Reihe der in den Dissertationen behandelten Gegenstände ist denkbar vielfältig, nur ein Teil der Drucke beschäftigt sich in genuin ‚schulmäßiger’ Form mit Einzelaspekten der Systemrhetorik bzw. der Regelpoetik. Vielfach spiegeln die Dissertationen sehr genau aktuelle Debatten ihrer Zeit wie die Frage des Vorranges bzw. der Konkurrenz der Disziplinen, die Problematik einer ‚geistlichen’ Beredsamkeit oder Überlegungen zur Relevanz poetischer Inspiration (furor poeticus). Erste Versuche einer Historisierung und Kanonisierung literarischer Texte werden verhandelt, die Interferenzen zwischen gesellschaftlichem und rhetorischem decorum thematisiert, Überlegungen zum Begriff des Tragischen stehen neben der Erörterung nach Sinn und Berechtigung des Theaterspiels. Die Querelle des anciens et des modernes des ausgehenden 17. Jahrhunderts findet ebenso ihren Widerhall wie die poetologischen Paradigmenwechsel der Frühen Neuzeit (licentia poetica, Autonomiedebatte). Bei den detaillierten Studien zu den Quellen und ihrem Umfeld ergaben sich zuweilen unerwartete Befunde, so konnten unbekannte Wechselbeziehungen zwischen einzelnen Gelehrten und ihren ‚Schulen’ aufgedeckt und tradierte Fehleinschätzungen wie die Klassifikation von Alexander Gottlieb Baumgartens berühmten Meditationes de nonnullis ad poema pertinentibus als Magisterdisputation revidiert werden. Vor allem ergaben sich durch die Erschließung der bislang weithin unbeachteten Thesendrucke authentische Einblicke in den akademischen Betrieb der Zeit – von den thematischen Interessen der Akteure über die zeittypischen Formen der Argumentation und die Konjunktur bestimmter ‚Autoritäten’ bis hin zu den Gepflogenheiten mäzenatischer Förderung und gelehrter Selbstpositionierung, wie sie sich vor allem aus den vielfältigen Paratexten ableiten lassen. Das ca. 700-800 Seiten umfassende Repertorium wird voraussichtlich im Jahr 2015 publiziert werden.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- Dissertationen, in: Quellen zur frühneuzeitlichen Universitätsgeschichte. Typen, Bestände, Forschungsperspektiven, hrsg. von Ulrich Rasche. Wiesbaden 2011, S. 293‒312
Hanspeter Marti
- Frühneuzeitliche Parodiedebatten im Medium akademischer Disputationen. Das Exercitium philologicum de parodia (Leipzig 1671), die Disputatio de parodia (Uppsala 1776) und das theoriegeschichtliche Umfeld, in: Dichtung – Gelehrsamkeit – Disputationskultur, hrsg. von Robert Seidel, Reimund B. Sdzuj und Bernd Zegowitz. Wien u.a. 2012, S. 563‒586
Robert Seidel
- Daniel Wilhelm Moller (1642–1712): Metaphysik und Historie an der Universität Altdorf, in: Nürnbergs Hochschule in Altdorf. Beiträge zur frühneuzeitlichen Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte, hrsg. von Hanspeter Marti und Karin Marti-Weissenbach. Köln / Wien 2014, S. 270‒285
Reimund B. Sdzuj