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SFB 700:  Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit - Neue Formen des Regierens?

Fachliche Zuordnung Sozial- und Verhaltenswissenschaften
Geisteswissenschaften
Förderung Förderung von 2006 bis 2017
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 15088804
 
Erstellungsjahr 2018

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Seit über 20 Jahren führt Somalia die Listen „zerfallener Staaten“ an. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass „traditionelle“ Klans und ihre chiefs im Nordwesten des Landes einen Quasi-Staat, Somaliland, aufbauen konnten. Gleichzeitig würde wohl niemand Deutschland als „zerfallenden Staat“ bezeichnen, auch wenn die Berliner Polizei den Drogenhandel und die illegale Prostitution im Görlitzer Park mittelfristig nicht unter Kontrolle bekommt. Die beiden Beispiele veranschaulichen die zentrale Botschaft des SFB 700: • Räume begrenzter Staatlichkeit gibt es überall auf der Welt, und nicht nur in sogenannten „zerfallen(d)en Staaten“. • Räume begrenzter Staatlichkeit, in denen staatliche Kapazitäten zur Regel(durch)setzung und zur Aufrechterhaltung des legitimen Gewaltmonopols fehlen, sind weder unregierbar, noch unregiert. Es gibt keinen linearen Zusammenhang zwischen staatlicher Durchsetzungsfähigkeit einerseits und der Bereitstellung kollektiver Güter und Dienstleistungen andererseits. Im Gegenteil – Räume begrenzter Staatlichkeit sind in Hinblick auf Governance äußerst heterogen. In den vergangenen 12 Jahren haben 29 Teilprojekte aus der Politikwissenschaft und angrenzenden Disziplinen versucht, die zentrale Frage des SFB 700 zu beantworten: Wie und unter welchen Bedingungen werden Governance-Leistungen in Räumen begrenzter Staatlichkeit erbracht und welche Probleme entstehen dabei? In der ersten Förderperiode standen unsere Kernkonzepte und theoretischen Vorannahmen auf dem Prüfstand. Im Ergebnis einer intensiven Debatte über die Fallstricke des Eurozentrismus definierten wir Governance als institutionalisierte Modi der sozialen Handlungskoordination, die auf die Herstellung und Implementierung verbindlicher Regelungen bzw. auf die Bereitstellung kollektiver Güter abzielen. Diese Definition grenzte Governance von Staat und Staatlichkeit ab. So konnten wir in der zweiten Förderperiode in die historische und räumliche Governance-Vielfalt eintauchen und die lokalen Besonderheiten des Regierens in Räumen begrenzter Staatlichkeit erforschen. In der dritten Förderperiode konzentrierten wir uns schließlich darauf, unsere empirischen Befunde zu generalisieren und einfließen zu lassen in eine empirisch gesättigte Theorie des (effektiven und legitimen) Regierens in Räumen begrenzter Staatlichkeit. Im Zentrum dieser Theorie stehen drei Fragen: (1) Unter welchen Bedingungen sind handlungsfähige Akteure motiviert, Governance-Leistungen bereitzustellen? (2) Unter welchen Bedingungen sind diese Leistungen erfolgreich? (3) Unter welchen Bedingungen sind Governance-Beiträge nicht-staatlicher oder externer Akteure normativ legitim? (1) Während viele Akteure (z.B. humanitäre Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und die meisten internationalen Organisationen (IOs)) institutionell darauf ausgerichtet sind, kollektive Güter in Räumen begrenzter Staatlichkeit bereitzustellen, haben andere Akteure keine entsprechende intrinsische Motivation (z.B. Wirtschaftsunternehmen oder Warlords). Wir stellen aber fest, dass solche Akteure dennoch häufig Governance-Leistungen erbringen – sofern das für sie nützlich ist. Eigennützige Akteure engagieren sich für Governance, (a) wenn ein anderer mächtiger Akteur die idealtypische Rolle des Staates übernimmt und entsprechend Druck ausübt (externer „Schatten der Hierarchie“); (b) wenn die Investition in Governance kostengünstiger ist als der „unregierte“ anarchische Zustand; (c) wenn das Engagement für kollektive Güter Legitimitäts- und Reputationsgewinne verspricht; (d) wenn lokale Gemeinschaften, die durch ein hohes Maß an sozialem Vertrauen gut organisiert und handlungsfähig sind, Druck auf den eigennützigen Akteur ausüben. (2) Die Effektivität des Regierens in Räumen begrenzter Staatlichkeit hängt gemäß unseren Beobachtungen insbesondere von drei Faktoren ab: (a) Institutionalisierungsgrad des Governance-Arrangements; (b) soziales Vertrauen der Governance-Adressat_innen untereinander; (c) soziale Akzeptanz (empirische Legitimität) der Governance-Akteure und -Institutionen (in den Augen der Betroffenen). Der wichtigste Erfolgsfaktor ist die empirische Legitimität. Zusätzlich braucht erfolgreiche Governance funktional adäquate Institutionen sowie ein hohes Maß an sozialem Vertrauen zur Lösung von Koordinationsproblemen innerhalb eines Governance-Kollektivs. (3) Die Frage der normativen Legitimität von Governance stellt sich insbesondere da, wo Menschen von einer Governance-Leistung auch negativ betroffen sind: wo Lasten verteilt werden und negative Externalitäten entstehen. Kostenträchtige Governance-Beiträge externer und nicht-staatlicher Akteure können normativ legitim sein, sofern sie eine der folgenden Bedingungen erfüllen: Entweder sollten die handelnden Akteure von den Governance-Empfänger_innen im Rahmen fairer und inklusiver Verfahren autorisiert sein, die Governance-Leistung zu erbringen; oder die Leistung selbst sollte dem Schutz, der Einhaltung oder der Institutionalisierung grundlegender Menschenrechte dienen. Diese Bedingungen reflektieren die Werte der Selbstbestimmung und der Menschenrechte, die das Fundament des Regierens sind – in Räumen begrenzter und konsolidierter Staatlichkeit gleichermaßen.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

 
 

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