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Religiöse Orientierungen und Begründungsmuster in der deutschen "Anti-Atom- Bewegung": eine Fallstudie am Beispiel Gorleben

Antragsteller Professor Dr. Wilhelm Gräb (†)
Fachliche Zuordnung Evangelische Theologie
Förderung Förderung von 2010 bis 2014
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 154174976
 
Erstellungsjahr 2014

Zusammenfassung der Projektergebnisse

In unserem Forschungsprojekt ging es darum, Anti-Atom-Aktivisten, die sich gegen die Endlagerung von hochradioaktiven Müll im Salzstock Gorleben engagieren, nach den Beweggründen für ihr Anti-Atom-Engagement zu befragen und die Interviews unter der Fragestellung nach religiösen Aspekten in den Orientierungen und Begründungsmustern zu untersuchen. Der wichtigste Befund unserer Untersuchungen ist, dass in einer Reihe von Fällen Erfahrungen der Selbsttranszendenz als ausschlaggebend für das eigene Engagement angeführt werden, worunter wir Betroffenheitserfahrungen unterschiedlichsten Inhalts verstehen. Diese Erfahrungen sind stark emotional gefärbt und zeichnen sich dadurch aus, dass die Betroffenen ergriffen werden von etwas und nicht selbst etwas intendieren. Es sind negative Widerfahrnisse, die das Empfinden von Sinnhaftigkeit beeinträchtigen, etwa eine plötzliche, diffuse Angst, dass die Gesundheit der eigenen Kinder durch die Kernenergie bedroht sein könnte. Diese Erfahrungen wecken den Sinn für die Vorausgesetztheit des eigenen Lebens, teils führen sie in existenzielle Sinnkrisen, weil die eigene Existenz und die anderer Menschen verstärkt unter dem Aspekt des Gefährdetseins und Bedrohtseins wahrgenommen werden. Erschüttert ist dann das Vertrauen in einen alles umgreifenden, sinnstiftenden Zusammenhang der Wirklichkeit. Dadurch entstehen aber auch neue Wertbindungen, weil die emotional verankerte Ergriffenheit dazu motiviert, sich gegen die zivile Nutzung der Kernenergie und für veränderte gesellschaftliche Strukturen einzusetzen, die in viel stärkerem Maße als kontingent erscheinen als zuvor. Die Aktivisten transzendieren dann ihre Lebenswirklichkeit auf neue moralische Ziele hin im gesteigerten Bewusstsein der Abhängigkeit des eigenen Lebens von größeren Zusammenhängen in die das eigene Leben eingebettet ist und in einem gesteigerten Gefühl der Verantwortlichkeit für die Gestaltung der gestaltbaren Zusammenhänge. Gefühlsmäßig bewusst werden die Grenzen menschlichen Handelns und Lebens, das als permanent gefährdet erscheint, und die Abhängigkeit von dem menschlichen Handeln entzogenen Kräften. Beantwortet wird dies durch ein Vertrauen darein, dass durch gemeinsames Handeln in der Anti-Atom-Bewegung eine Lebensform gefunden werden kann, die sich der Abhängigkeit von größeren Kräften und der Gefährdetheit menschlichen Lebens bewusst ist und aus diesem Bewusstsein heraus die Welt „im Einklang mit der Natur“ gestaltet. Durch das gesteigerte Gefühl der Verantwortlichkeit für die Gestaltung des Gestaltbaren wird das eigene Handeln permanent daraufhin überprüft, ob durch es nicht anderen Menschen und der Umwelt insgesamt Schaden zufügt wird und ob es mit den eigenen Werten und Überzeugungen übereinstimmt. Vor diesem inneren Anspruch muss sich das eigene Leben bewähren, soll es als sinnvoll erlebt werden können. Das eigene Engagement dient somit maßgeblich auch der Sinnvergewisserung im gesteigerten Bewusstsein der Lebensgefahr. Entscheidend trägt zu dieser Sinnvergewisserung auch die mit dem persönlichen Engagement verbundene Erfahrung bei, als Einzelner Teil einer großen, der Lebensgefahr wehrenden Gemeinschaft zu sein und zu deren Wirksamkeit beitragen zu können, wie dies im Statement einer Aktivistin nach dem Castortransport 2011 zum Ausdruck kommt: „Wir sind alle EINS! Es sind so wahnsinnig viele Menschen, die genau das selbe wollen wie du, diese Gemeinschaft ist einfach super fast eine andere Welt wenn nur alle so nett und hilfsbereit wären auf dieser Welt“. In diesen Fällen, so könnte man sagen, vermittelt das eigene Engagement für die Anti-Atom-Bewegung, indem dieses als Eintritt für das Leben bzw. gar als Kampf gegen den drohenden Weltuntergang aufgefasst wird, die Teilhabe an einem unbedingten, den religiösen Ausdruck suchenden Sinn.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • Emotionen, radikaler Protest und Religionsdiskurs, in Charbonnier, Lars/ Mader, Matthias/ Weyel, Birgit (Hg.): Religion und Gefühl. Praktisch-theologische Perspektiven einer Theorie der Emotionen, Göttingen/ Bristol 2013, 233-249
    Mader, Matthias
 
 

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