Detailseite
Die "Wunschkindpille". Zur Erfahrungsgeschichte der hormonellen Empfängnisverhütung in der DDR im Kontext von staatssozialistischer Strategie und pharmazeutischer Industrie
Antragsteller
Professor Dr. Lutz Niethammer
Fachliche Zuordnung
Neuere und Neueste Geschichte (einschl. Europäische Geschichte der Neuzeit und Außereuropäische Geschichte)
Förderung
Förderung von 2010 bis 2018
Projektkennung
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 160780805
Die Markteinführung der Antibaby-Pille zu Beginn der sechziger Jahre in der Bundesrepublik und ihre kulturellen und sozialen Konsequenzen, die sich als epochaler Wandel in der Geschichte der Sexualität beschreiben lassen, sind bereits seit einigen Jahren Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Von der Forschung bisher beinahe unbeachtet ist jedoch die Parallel-Entwicklung in der DDR, wo der VEB Jenapharm seit 1965 die „Wunschkind-Pille“ produzierte. Mit unserem Vorhaben möchten wir diese Lücke schließen. Das Projekt wird die spezifischen gesellschaftlichen Konstellationen untersuchen, die in der DDR als erstem Ostblockstaat die Entscheidung für eine hormonelle Empfängnisverhütung ermöglichten. Die Pille wird dabei als ein Produkt in den Blick genommen, an dessen Einführung, Verbreitung und Gebrauch zahlreiche politische und gesellschaftliche Akteure beteiligt waren, die unter den Bedingungen der staatssozialistischen Diktatur und der stummen Anwesenheit des Westens auf vielen Ebenen mit unterschiedlichen Intentionen interagierten: Neben den Entscheidungsgremien des Parteistaats in der SED-Führung und den Fachministerien waren das zunächst die pharmazeutische Forschung und Industrie, Gesundheitsbehörden wie die Sexual- und Familienberatungsstellen und die Frauenärzte sowie auf der anderen Seite Vertreter der evangelischen und katholischen Kirche. Im Zentrum dieses Beziehungsgeflechts und damit im Kern der geplanten Untersuchung stehen jedoch die Frauen und ihre Sexualpartner als Subjekte und Objekte dieser neuen Methode der Empfängnisverhütung. Lebensgeschichtliche Interviews vor allem mit Konsumentinnen und Verweigerinnen der Pille, aber auch mit ihren männlichen indirekten Nutzern sowie schriftliche Überlieferungen der Entscheidungsträger und Fachleute versprechen Erkenntnisse über die Ausprägung der ostdeutschen Geschlechter-Ordnung und über „eigensinnige“ Praktiken der Subjekte, die in bloßen bevölkerungspolitischen Planungs- und Kontrollvorstellungen des Staates nicht aufgingen. Die Untersuchung soll der Frage nachgehen, inwieweit und warum das weithin starre soziale Gefüge der DDR sich gerade auf diesem Gebiet als ähnlich „modern“ wie die BRD und weitaus westlicher als die Sowjetunion erwies. Über ihren unmittelbaren Gegenstand hinaus kann die Untersuchung somit auch Einsichten in die Ambivalenzen der Gesellschafts- und Erfahrungsgeschichte der DDR vermitteln, jenseits von polarisierenden Gegenüberstellungen politischer Repressions- und scheinbar unpolitischer Alltagsgeschichte.
DFG-Verfahren
Sachbeihilfen
Beteiligte Person
Professorin Dr. Silke Satjukow