Musik und ethisch-moralischer Wandel um 1700: Paris, London, Hamburg.
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Die Konzeption des Forschungsprojektes gründete 2012 auf den Ergebnissen, die die Antragstellerin in vorangegangenen Forschungsarbeiten zur Musik nach 1945 mit einer kulturwissenschaftlichen Herangehensweise erzielt hatte. In diesen Studien zur Avantgardemusik hatte sie beobachtet, dass Komponistinnen und Komponisten in ihren musikalischen Werken auf verbalsprachliche, über Printmedien verbreitete Theorien wie auch implizite mentalistische Sachlagen in Politik, Gesellschaft und Geistesgeschichte Bezug nehmen (’68er Zeitgeist bzw. Visionen vom 'Ende der Geschichte' in den 1980er Jahren). Die expliziten Theorien und impliziten mentalistischen Verfassungen inspirierten die Komponistinnen und Komponisten zu kompositionstechnischen Innovationen. Vor diesem Hintergrund ging die Antragstellerin davon aus, dass in Hinblick auf den moralisch-ethischen Wandel um 1700, dem Übergang von der frühen Neuzeit zur Aufklärung, ähnliche Prozesse feststellbar sein würden. Anhand ausgewählter, für die Pariser/Versailler, Hamburger und Londoner Bühnen komponierter Musiktheaterwerke ließ sich demgegenüber in dem von der DFG geförderten Forschungsprojekt zeigen, dass ein Zusammenhang zwischen Theorien und Zeitgeist auf der einen und Musik auf der anderen Seite zwar existiert, jedoch anders als in der Geschichte der Avantgardemusik konfiguriert ist. Die Projektergebnisse führen vor Augen, dass barocke und frühaufklärerische Opern in den Dekaden um 1700 als Medien fungierten, um moralisch-ethische Ideen und Vorstellungen zu artikulieren, die von den damaligen Zeitgenossen visionär 'angedacht' und 'erahnt' wurden, auf die sie jedoch keinen verbalsprachlichen Zugriff besaßen. An diesem Prozess der Ausformung neuer, visionärer moralisch-ethischer Ideen, die im Rahmen der Opernhandlung mit rein dramatischen Mitteln an ein größeres Publikum vermittelt wurden, wirkten nicht nur die Librettisten über die Gestaltung der zu vertonenden Verse und die Ausgestaltung des Plots, sondern auch die Komponisten mit, letztere mit musikalischen Mitteln. Im Ergebnis wurden in Ergänzung zu den verbalsprachlich formulierten und gedruckten Morallehren und ethischen Theorien, die vonseiten der Kultur-, Sozial- und Philosophiegeschichte in den vergangenen Dekaden recht gut aufgearbeitet worden sind, in der Monographie neue Moral- und Rechtstheorien herausgearbeitet, die in der bisherigen Forschung keine oder bestenfalls geringe Aufmerksamkeit erhalten hatten: die Durchsetzung der relativistischen Ethik im Hamburger Theater- und Opernstreit im ausgehenden 17. Jahrhundert, das Phänomen der psychisch-kommunikativen Spaltung (als Konsequenz aus den Imperativen der politischen Klugheit und Verstellungsethik) in der französischen post-Lullyschen "tragédie en musique" nach 1687, die Konzepte der absoluten Gewissheit und der Treue gegen sich selbst, die sich in der Hamburger Oper im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts artikulieren, sowie das nutzenethische (mit dem Utilitarismus verwandte, mit ihm jedoch nicht identische) Paradigma, das die Londoner "ballad operas" ab 1728 prägt. Die Ergebnisse zeigen darüber hinaus, dass die Darstellungsziele in den Opern mit kompositionstechnischen, -stilistischen und dramaturgischen Veränderungen einhergingen, die die Autonomisierung der Musik sowie die Entwicklung des Wiener klassischen und des heroischen Stils im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts bzw. frühen 19. Jahrhunderts vorbereiteten.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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„The Celebration of Beethoven’s Bicentennial in 1970 – The Anti-Authoritarian Movement and Its Impact on Radical Avant-garde and Postmodern Music in West Germany“, in: The Musical Quarterly, 93:3-4, 2010 (= 2011), S. 560-615
Kutschke, Beate
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2013. Music and Protest in 1968, Cambridge: Cambridge University Press, 327 Seiten
Kutschke, Beate und Barley Norton (eds.)
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2013. „Collagen, Variationensätze und Hommagen. Zitattechniken in der DDR nach der Niederschlagung des Prager Frühlings“, in: Postmoderne hinter dem eisernen Vorhang, hrsg. von Amrei Flechsig and Stefan Weiss, Hildesheim: Olms
Kutschke, Beate
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2013. „New ‘Old Leftist’ aesthetics in the West German contemporary music scene: the cantata Streik bei Mannesmann (1973)”, in: Music and Communism, hrsg. von Robert Adlington, Oxford: Oxford University Press
Kutschke, Beate
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Gemengelage. Moralisch-ethischer Wandel im europäischen Musiktheater um 1700: Paris, Hamburg, London (Studien und Materialien zur Musikwissenschaft). Hildesheim: Olms 2016, 320 Seiten.
Beate Kutschke
