Auf dem Weg zum "Deutschen Chronometer": Die Einführung von Präzisionszeitmessern bei der deutschen Handels- und Kriegsmarine im 19. Jahrhundert.
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Die Einführung des Chronometers vollzog sich bei den Handelsmarinen der deutschen Küstenanrainerstaaten regional unterschiedlich und hing in erster Linie von der geographischen Reichweite des Schiffsverkehrs ab. In Hafenstädten mit Überseeverkehr, d.h. vor allem transatlantischer Fahrt, wurden die Schiffe verhältnismäßig rasch mit Chronometern ausgestattet. Mit der „administrativ verordneten" Einführung von Präzisionszeitmessern trotz lokalem, vorwiegend auf die Küstenfahrt beschränkten Schiffsverkehr stellt Preußen einen Sonderfall dar. Nach der Reichsgründung 1871 veränderten sich der institutionelle Rahmen, wie auch die Entwicklungsperspektiven der Kriegsmarine Preußens grundlegend. Die Kaiserliche Admiralität suchte die einheimische Industrie von ausländischen (insbesondere englischen) Präzisionsinstrumenten unabhängig zu machen, deren Nachschub im Kriegsfall nicht gesichert schien, und es wurde ein staatliches Prüfungswesen eingeführt. 1897 wurde in einer publizistischen Kampagne der Zustand der Chronometerherstellung in Deutschland vehement beklagt und es setzte eine breite, zum Teil ausgesprochen polemische Diskussion ein. Inzwischen war Konteradmiral Alfred Tirpitz zum Staatssekretär des Reichsmarineamtes ernannt worden und der Entwurf für ein neues Flottenbauprogramm auf dem Weg. Die „Chronometerfrage" stellte vor diesem Hintergrund keine Marginalie dar, und das Reichsmarineamt schaltete sich in die Auseinandersetzung ein. Es wurde eine Konferenz einberufen und die Kriterien für ein „rein deutsches" Chronometer festgesetzt, doch zeigte sich bald, daß Probleme mit der Vereinbarkeit von Logistik, technischen Fertigungsproblemen und den aufgestellten Regularien auftraten. Hier stießen die deutschen Autarkiebestrebungen an Grenzen, die Kompromißlösungen erzwangen. Auch mußte auf technologische Veränderungen reagiert werden, die sich bald nach der Jahrhundertwende vollzogen (Einführung der Nickelstahlunruh). Die 1899 gegründete „Vereinigung für Chronometrie" hatte an der Durchsetzung einer eigenständigen Chronometerfertigung maßgeblichen Anteil und stellte mit der wissenschaftlichen Begleitung und Unterstützung von Bestrebungen des Reichsmarineamtes ein Novum dar. Die Herstellung von Chronometern im Deutschen Reich erwies sich nicht nur aus technologischen und logistischen Gründen als schwierig. Der Markt war sehr weitgehend zugunsten englischer Hersteller aufgeteilt, und der tiefgreifende Strukturwandel in der Schiffahrt im 19. Jahrhundert führte zu einer mangelnden Nachfrage: Segelschiffe wurden in rasch zunehmendem Tempo durch Dampfer ersetzt und immer weniger, dafür umso größere Schiffe gebaut. Der Bedarf der Kriegsmarine allein reichte nicht hin, das Überleben der deutschen Chronometermacher zu sichern, und selbst die kühnsten Flottenrüstungspläne hätten es nicht vermocht, einen nachhaltigen Schub für die Chronometerfertigung zu erzeugen. Hierin bestand eine bemerkenswerte Übereinstimmung mit den Verhältnissen in England. Die Bemühungen um die Schaffung des „rein deutschen Chronometers" waren - wenn auch mit gewissen Kompromissen und sozusagen im Reservat der Konkurrenzprüfungen der Deutschen Seewarte - letztendlich erfolgreich und im Jahre 1910 abgeschlossen. Dies bedeutet allerdings nicht, daß der Import englischer Chronometer zum Erliegen gekommen wäre. Die Handelskontakte deutscher Chronometermacher nach England dauerten bis in die Zeit unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges fort.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Heinrich Johann Kessels (1781-1849): Ein bedeutender Verfertiger von Chronometern und Präzsionspendeluhren, Biographische Skizze und Werkverzeichnis (= Acta Historica Astronomiae, 44). Frankfurt/M. 2011
Günther Oestmann