Schwierigkeiten mit der Wirklichkeit. Weltaneignung und Weltanschauung im Leben und Werk führender Marxisten 1871-1914
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Die sogenannte Soziale Frage, mit der die dramatischen Folgen der Industrialisierung umschrieben werden, hat im Laufe des 19. Jahrhunderts viele verschiedene Antworten hervorgebracht. Den Aufstieg des Marxismus – verstanden als die epigonale Aneignung der Schriften von Marx zwischen 1870 und 1900 – kann man als einen Antwortversuch auf diese Frage, die stets eine politische war, verstehen. In keiner anderen modernen politischen Bewegung wurde der Anspruch, ihr „theoretisches“ Verständnis mit der als „Praxis“ verstandenen Veränderung der sozialen Wirklichkeit in Einklang zu bringen, so leidenschaftlich vertreten wie unter den ersten Anhängern und Popularisierern der Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Das Forschungsvorhaben untersucht ihre individuelle Hinwendung zu Marx als politisches Engagement und analysiert die in Selbstzeugnissen und publizierten Texten hinterlassenen Wirklichkeitsbezüge im Kontext dieses marxistischen Engagements. Im Prozess dieser intellektuellen und emotionalen Hingabebewegung wurden die Protagonisten gleichfalls zu den Gründern einer der einflussreichsten politischen Weltanschauungen der Moderne. Es handelt sich um die zwischen 1845 und 1870 in Deutschland, Österreich-Ungarn, Frankreich und im Zarenreich geborenen Karl Kautsky, Eduard Bernstein, Rosa Luxemburg, Victor Adler, Jean Jaurès, Jules Guesde, Georgi W. Plechanow, Wladimir I. Lenin und Peter B. Struve. Sie alle gehörten zur geistigen Gründergeneration des Marxismus. Überraschend war einerseits, wie wenig wir bisher trotz der umfangreichen Sekundärliteratur zur Geschichte der Arbeiterbewegung, des Sozialismus und des Marxismus über die konkreten Marx- und Wirklichkeitsaneignungen der einflussreichsten marxistischen Intellektuellen wussten. Des Weiteren hat sich gezeigt, dass, entgegen bisheriger Annahmen, die Anziehungskraft der Marx’schen Werke ursprünglich nicht in der Vermittlung einer utopischen Zukunftsperspektive lag, sondern in dem Anspruch, die sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Dynamiken zu erklären, die die Gesellschaften Europas infolge der sich ausbreitenden „kapitalistischen Produktionsweise“ erfasst hatten. Allein dieser als „wissenschaftlich“ behauptete und von Marx’ ersten Anhängern auch so verstandene radikale Wirklichkeitsbezug versprach die „wirkliche“ Erkenntnis und damit auch Veränderung einer von sozialer Not und tiefen gesellschaftlichen Konflikten geprägten Welt. Die aus dem Projekt hervorgegangene Monographie rekonstruiert somit die Anfänge des Marxismus jenseits der konventionellen theorie-, programm- und bewegungsgeschichtlichen Pfade erstmals aus einer erfahrungsgeschichtlichen Perspektive. Sie vertieft damit unser Verständnis einer politischen Weltanschauung, die sich im 20. Jahrhundert als (Staats-) Ideologie folgenreich ausbreiten sollte. Sie deutet diese als modernes politisches Engagement, öffnet damit die Marxismus-Geschichtsschreibung hin zur allgemeinen Politik- und Ideengeschichte und regt zu vergleichenden Forschungen in Bezug auf die anderen politischen Theorien und Politikentwürfe an, die parallel zum Marxismus als weltanschauliche Antworten auf die Soziale Frage entstanden.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Szenen einer marxistischen Familie: Historischer Streifzug durch die vernetzte Lebenswelt führender Marxisten, 1871-1917, in: Perspektiven ds. Zeitschrift für Gesellschaftsanalyse und Reformpolitik, 27, 2 (2010), S. 55-69
Christina Morina
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Marx’ Prophezeiungen auf dem Prüfstand seiner Erben. Eine ideen- und erfahrungsgeschichtliche Annäherung an Eduard Bernstein und Karl Kautsky, in: Matthias Steinbach/Michael Ploenus (Hrsg.), Prüfstein Marx. Zu Edition und Rezeption eines Klassikers (Berlin: Metropol, 2011), S. 93-112
Christina Morina
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Studying Socialism Today. Why and How? Conference Report on the Workshop Dimensions of Socialism. H-Soz-u-Kult, H-Net Reviews. April, 2011
Christina Morina
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„Sowie ich den Erdgeruch von Proletariern spüre…“: Politische Ideengeschichte als Erfahrungsgeschichte, in: Biographische Ansätze zur Geschichte der Arbeiterbewegung im 20. Jahrhundert (=Mitteilungsblatt des Instituts für Soziale Bewegungen, Heft 45/2011), S. 73-88
Christina Morina
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Schwierigkeiten mit der Wirklichkeit. Weltaneignung und Weltanschauung im frühen Marxismus. Habilitationsschrift, Friedrich-Schiller-Universität Jena, 2017
Christina Morina