Diskurse und Konzepte von Sakralität und Sakralisierung im hinduistischen Großreich von Vijayanagara und in portugiesisch Goa (14.-18. Jh.)
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Weil das Teilprojekt Indologie vier Arbeitsbereiche umfasste, war es möglich, personenbezogene „Heiligkeit“ auf einer Vielzahl von Ebenen zu untersuchen, die von der Außensicht portugiesischer Missionare im 16. Jahrhundert, bis zur Innensicht des Vidyāraṇya reichen. (1) Westliche Außenperspektive. Unsere Grundannahme dabei war, dass „Heiligkeit“ von Personen Ergebnis einer Zuschreibung ist, und – im indischen Kontext –, die Übertragung eines westlichen Begriffs, der so in den indischen Sprachen zuvor nicht existierte. Diese Annahme ist aber dahingehend zu qualifizieren, dass mit der Analyse einer solchen west-östlichen Übertragung und Zuschreibung (Arbeitsbereich Stinzing, Untersuchungen zur Übersetzbarkeit von „heilig“ durch Steiner) erst ein Aspekt personaler „Heiligkeit“ erfasst ist. (2) Narrativierung in Hagiographie und (3) Inszenierung im Ritual. Die „Heiligkeit“ bestimmter Personengruppen konstituiert sich einerseits im westlichen Diskurs über indische Religiosität, andererseits aber auch durch narrative und performative Praktiken, Inszenierungen, Hagiographien (Arbeitsbereich Steiner) und Rituale (Arbeitsbereiche Steiner und Brückner), die erst die Projektionsfläche für „Heiligkeit“ als Zuschreibung hervorbringen. (4) Innenperspektive einer nach Erlösung aus der Welt strebenden Philosophie. Um die durch die Fokussierung auf Außenperspektive, Narrativierung und Inszenierung sich ergebende Gefahr zu vermeiden, Elemente indische Religiosität nur noch als westliche Projektionen („Orientalismus“) oder indische soziale Konstruktionen zu sehen, und dabei die Innenperspektive der Personen auszublenden, die auf diese Weise als „heilig“ bezeichnet oder inszeniert werden, wurde die „Innensicht“ der philosophischtheologischen Texte des Vidyāraṇya mit einbezogen. In dieser Innenperspektive werden die Möglichkeiten der Verwirklichung einer radikalen inneren Loslösung von als leidvoll empfundenen Verstrickungen in die Welt untersucht; in Hagiographien (u.a. über Vidyāraṇya selbst) werden Personen dargestellt, von denen man annimmt, sie haben dieses Ziel erreicht, und zeichneten sich u. a. durch eine besondere spirituell-magische Macht aus; in Ritualen wird eine solche Machtstellung performativ kommuniziert, und es kommt zu einer Verschmelzung von königlicher Machtfülle und asketischer Weltentsagung; in der portugiesischen Außenperspektive wird diskutiert, ob solche Personen (Yogis) eher heilig oder dämonisch, potentielle Verbündete oder Gegner sind. Das Projekt konnte zeigen, wie das Phänomen von Sakralität und Sakralisierung nur durch die Beachtung dieser verschiedenen Schichten adäquat und nahezu vollständig erfasst werden kann. Jedes dieser Felder besitzt dabei einen gewissen Grad an Autonomie, stellt in einem bestimmten Sinn einen in sich geschlossenen Diskursbereich dar, kann aber nur vor dem Hintergrund der jeweils anderen Bereiche begriffen werden. Zu dieser Zentrierung trug aber die Diskussion mit den anderen Teilprojekten maßgeblich bei.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- Konzepte von Heiligkeit durch Erfahrung des Absoluten im Advaita-Vedānta der Pañcadaśī: Perspektiven des Heiligen, in: Sakralität und Sakralisierung (Beiträge zur Hagiographie 13), hg. v. Andrea Beck/Andreas Berndt, Stuttgart 2013, S. 121-140
Matthias Ahlborn
- Die Rolle des Samādhi im Advaitavedānta des Vidyāranya. Meditation als Heilsweg?, in: Wege zum Heil(igen)? Sakralität und Sakralisierung in Hinduistischen Traditionen, hg. v. Karin Steiner, Wiesbaden 2014, S. 35–63
Matthias Ahlborn
- Heiliger Rausch, berauschte Heilige, in: Wege zum Heil(igen)? Sakralität und Sakralisierung in Hinduistischen Traditionen, hg. v. Karin Steiner, Wiesbaden 2014, S. 187–194
Sebastian Stinzing
- Von Heiligen mit großen Zähnen, den Ansichten eines modernen „Heiligen“ und Wörterbüchern als Medien des Kulturvergleichs – ein Versuch, in: Wege zum Heil(igen)? Sakralität und Sakralisierung in hinduistischen Traditionen, hg. v. Karin Steiner, Wiesbaden 2014, S. 11–33
Karin Steiner
- Wege zum Heil(igen)? Sakralität und Sakralisierung in hinduistischen Traditionen, Wiesbaden 2014
Karin Steiner (Hrsg.)
(Siehe online unter https://doi.org/10.5771/0257-9774-2015-2-659) - Das „Unpersönliche Absolute“ (Brahman) und der „Persönliche Gott“ (Īśvara) in der Theologie des Vidyāraṇya (14. Jahrhundert): Eine Antwort des Advaita-Veānta auf Theistische Strömungen, in: Sakralität und Devianz. Konstruktionen – Normen – Praxis (Beiträge zur Hagiographie 16), hg. v. Klaus Herbers/Larissa Düchting, Stuttgart 2015, S. 187–208
Matthias Ahlborn
- Pretas und arme Seelen – Ein Beispiel für eine parallele Entwicklung religiöser Inhalte und Strukturen in Europa und Asien, in: »In ihrer rechten Hand hielt sie ein silbernes Messer mit Glöckchen...«: Studien zur indischen Kultur und Literatur. [Festschrift Heidrun Brückner], hg. v. Anna Aurelia Esposito et al., Wiesbaden 2015. S. 337–344
Sebastian Stinzing
(Siehe online unter https://doi.org/10.2307/j.ctvc5pg6c.33) - Der verschwundene Körper Vidyatirthas und Gott Siva: Südindische Befunde zur Wechselwirkung zwischen heiligem Objekt und Person, in: Heilige und geheiligte Dinge. Formen und Funktion, hg. v. Andrea Beck, Stuttgart 2017, S. 111–127
Karin Steiner
- Mensch, Held, Heiliger, Gott: „Fluid identities“ in hinduistischen Traditionen, in: Sakralität und Heldentum, hg. v. Felix Heinzner, Würzburg 2017, S. 129–142
Karin Steiner