Eine Ideengeschichte "Deutscher Wissenschaft". Von der Bejahung nationaler Werte zur radikalen Weltanschauung
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Das Projekt behandelte die Vorstellungen "Deutscher Wissenschaft" zwischen dem frühen Kaiserreich und dem Ende des Nationalsozialismus. Inhaltlich konzentrierte es sich auf die Philosophie, die von vielen Gelehrten als fächerübergreifende Synthese verstanden wurde. Die Untersuchung zeigte, wie eng die Durchsetzung der Wertphilosophie mit der inneren Verunsicherung nach den Attentaten auf den deutschen Kaiser Wilhelm I. 1878 verknüpft war. Philosophen von Rang und Ansehen beeilten sich, ihre Nützlichkeit für das gefährdete Gemeinwesen zu demonstrieren und verkündeten die überzeitliche Gültigkeit ihrer nationalistischen Überzeugungen. Aus diesen Werten wurden um 1900 umfassende Weltanschauungen mit gewaltigen Erklärungsansprüchen. Zu den Stars des Fin de Siècle gehörte der Jenaer Neoidealist Rudolf Eucken, der nicht weniger als eine Universalsynthese allen Wissens erstrebte. Nach Ausweis der schwedischen Akten erhielt er 1908 den Nobelpreis für Literatur für die gelungene Verknüpfung philosophischer und religiöser Sinnhorizonte. Das Vertrauen in die Macht der Bildung und den kontinuierlichen Fortschritt der Wissenschaft ging im Ersten Weltkrieg unter. Besonders folgenschwer war der Hungerwinter 1916/17. Viele Philosophen hatten den Krieg mit Blick auf die Zukunft gerechtfertigt und standen nun vor dem Problem, dass ein glücklicher Kriegsausgang nicht mehr gewiss war. Die als existentiell bedrohlich empfundene Lage führte zu manichäischen Weltdeutungsmustern und begünstigte die Konstruktion eines "inneren Feindes". Die Gemeinschaftsemphase der Weimarer Republik knüpfte an die akademische Selbstmobilisierung im "Krieg der Geister" an. Das besondere Augenmerk galt Hellmut Plessner, dessen Studie "Grenzen der Gemeinschaft" von 1924 zeitgenössisch viel und kontrovers diskutiert wurde. Freilich begünstigte die Verunsicherung der Menschen seit der Weltwirtschaftskrise 1929 schroffe ideologische Verwerfungen und ließ einen lebendigen Diskurs über den Gemeinschaftsbegriffs nicht mehr zu. Ungeachtet aller vollmundigen Rhetorik zeigten die Nationalsozialisten nur geringes Interesse an den Ergebnissen der Universitätsphilosophie. Das Fach erlebte eine Ära personeller Schrumpfung und inhaltlicher Stagnation. Wie weit es mit dem Niveauverlust der Philosophie gekommen war, konnte man im sogenannten Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften sehen, an dem ca. 500 Akademiker aus zwölf Disziplinen teilnahmen. Sie wollte ihre Nützlichkeit für den Propagandakrieg demonstrieren und blieb doch in der Tradition jener Denkfiguren, die sich schon im Ersten Weltkrieg als ungeeignet erwiesen hatten. Mit dem Ende des Nationalsozialismus war die Zeit für volltönende "Deutschtumsmetaphysik" endgültig abgelaufen.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Deutsche Geschichte ist nicht tiefschwarz, in: Cicero, Oktober 2013, S. 120-125, auch als „Der Mythos vom deutschen Sonderweg“, in: Cicero online vom 7. Dezember 2013
Ulrich Sieg
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Geist und Gewalt. Deutsche Philosophen zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München (Carl Hanser) 2013, 315 S.; zugleich Lizenzausgabe Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft)
Ulrich Sieg
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Antisemitismus und Antiliberalismus im Deutschen Kaiserreich, in: Ewald Grothe u. Ulrich Sieg (Hg.), Liberalismus als Feindbild, Göttingen 2014, S. 93-112
Ulrich Sieg
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Kulturkritik als Zeitgeistverstärkung. Der Jenaer Neoidealist Rudolf Eucken, in: Michael Dreyer u. Klaus Ries (Hg.), Romantik und Freiheit. Wechselspiele zwischen Ästhetik und Politik, Heidelberg 2014, S. 241-259
Ulrich Sieg
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Liberalismus als Feindbild, Göttingen (Wallstein) 2014, 308 S.
Ewald Grothe u. Ulrich Sieg (Hg.)
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Looking for a Great Synthesis. Philosophy around 1900, in: International Inoue Enryo Research 3 (2015), S. 1-12
Ulrich Sieg
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The Ambiguity of the Good. German Professors in the „War of the Minds“, in: Journal of International Philosophy 4 (2015), S. 237-243; japan. Übersetzung S. 61-67
Ulrich Sieg